ANNE WANNER'S Textiles in History / books

     
  Die Altmark von 1300 bis 1600, eine Kulturregion im Spannungsfeld von Magdeburg, Lübeck und Berlin, hgg von Jiri Fajt, Wilfried Franzen und Peter Knüvener, 568 pages, 600 photos, 23cm x 30,5cm, Euro 78, ISBN 978-3-86732-106-8, Lukas Verlag für Kunst- und Geistesgeschichte, Kollwitzstraße 57, D-10405 Berlin.
Die Publikation stellt die Ergebnisse einer wissenschaftlichen Tagung vor, die im September 2008 in Stendal Historikern, Kunsthistorikern sowie Restauratoren die Möglichkeit bot, das vielfältige kulturelle Schaffen in der Altmark, die Rolle der Kulturträger und das künstlerische und kulturelle Spannungsfeld, in dem sich die Altmark in der Zeit von 1300 bis 1600 befand, zu erörtern.
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Christa Jeitner, Nürnberger Serienproduktion?

Zur Einordnung einer Kasel mit gesticktem Kreuz aus dem dritten Viertel des 15. Jahrhunderts in der Stephanskirche zu Tangermünde, in: Die Altmark von 1300 bis 1600, pp 226-240
 
 
Chasuble, St. Stephan, Tangermuende, 1465/70


Chasuble, Bayerisches Nationalmuseum,
Munich, Inv. T285

   
 


Detail with Petrus, Chasuble Tangermuende


Detail with Paulus, Chasuble Tangermuende

     
  Tangermünde war ein häufig genutzter Residenzort mit verschiedenen Kirchen, Kapellen, Stiften, Klöstern. Es ist unklar, ob die Kasel aus einer dieser Einrichtungen stammte oder ob sie von Anfang an für die Stadtkirche St. Stephan bestimmt war. Man weiss nicht, von wem und zu welchem Anlass sie gestiftet wurde. Eine Schenkung durch die Hohenzoller liegt im Bereich des Möglichen.

Die Kasel gehört zu einer besonderen Gruppe bestickter Besätze für liturgische Gewänder, die in den letzten Jahren auf sich aufmerksam machte.
Mehr als 100 Jahre lang galt die Nadelmalerei als Blüte der Stickkunst. Seit der 2. Hälfte des 15. Jhs bricht nun diese Gruppe bestickter Besätze liturgischer Textilien aus diesem Stil aus. Frühere Kriterien werden fallen gelassen und durch neue ersetzt. Eine zweckbestimmte Einfachheit mit klaren Farbflächen und schwarzen Umrandungen und Binnenzeichnungen entsprach offenbar einem Bedürfnis der damaligen Gesellschaft.

   
 
Holy 3 kings, Dalmatic 9, treasury of Brandenburg Cathedral

  Als früheste Erzeugnisse gelten 8 Dalmatikplagulae im Brandenburger Dom.
2 weitere Kaselkreuze befinden sich im Bayerischen Nationalmuseum, die Gotthartkirche in Brandenburg besitzt eine Kasel dieses Stils, eine weitere Kasel ist die hier besprochene der Stephanskirche zu Tangermünde, ein Kaselbesatz wird in Prag aufbewahrt und im Brandenburger Domschatz hat sich eine Kasel dieses Stils erhalten. Eine entsprechende Stickerei gelangte in die Abeggstiftung in Riggisberg (Schweiz), weitere Beispiele könnten genannt werden. Weil es gerade in Brandenburg eine beachtliche Anzahl dieser Stickereien gibt, liegt es nahe, ihre Entstehung mit dem Herrschergeschlecht der Hohenzoller in Verbindung zu bringen. Erstmals publiziert wurden die entsprechenden Stickereien am Beispiel eines Kaselkreuz aus dem Bamberger Dom, es ist stilistisch abhängig vom Meister des Wolfgangaltares, der ca. 1455-70 in Nürnberg tätig war. Dieser Zusammenhang ist auch bestimmend für die Datierung der Stickereien im Brandenburger Dom und die Arbeiten der Gruppe werden demzufolge in die 1460er und 70er Jahren datiert.

In einem Vergleich der Typen findet Christa Jeitner erhebliche Unterschiede, welche weder auf einen individuellen Sticker und auch nicht auf eine Werkstatt hindeuten. Solche Unterschiede weisen auf eine grössere Anzahl von Stickern hin, und deshalb glaubt die Autorin, die Arbeiten müssten in einer Art Manufaktur entstanden sein, welche selbständige Handwerker beschäftigte. Das Unternehmen hätte in der Art eines Verlages die Materialien bereitgestellt und vermittelte möglicherweise auch die weitere Verarbeitung z.B. zu Ornaten. Die Kasel von Tangermünde könnte ein solches Gesamtprodukt darstellen.
Auf der Suche nach dem Ort, in welchem eine Manufaktur oder ein Unternehmen beheimatet gewesen wäre, bietet sich Nürnberg oder Franken an, denn hier waren in der 2. Hälfte des 15. Jhs die Voraussetzungen für eine leistungsstarke Produktion gestickter Besätze gegeben. Auch betätigten sich Nürnberger Sticker nachweislich im Auftrag des Brandenburger Domes.

 


Saint Dorothy, embroidery on Dalmatic 8,
treasury of Brandenburg Cathedral


Saint Paul, embroidery on Dalmatic 9,
treasury of Brandenburg Cathedral

   
  Die Stickereien sind innerhalb der Gruppe sehr ähnlich, und doch glaubt Jeitner nicht an eine einheitliche Vorlage, denn Aehnlichkeit entstehe nicht nur durch den Stil der Zeichnung, sondern ebenso durch den Stil der Ausführung. Beschreibungen von Kopierverfahren sind erhalten (Nürnberger Dominikanerinnen), und es ist vielmehr davon auszugehen, dass Werkpausen von originalen Stickereien abgenommen wurden. Durch den Handel mit Fertigware kamen Stickereien zu lokalen Entwerfern.
Jeitner untersucht die Ausführung der Stickereien sehr genau. Die Verarbeitung von preisgünstigen Materialien fällt ihr auf und ebenso eine grundsätzliche Rationalisierung in der Herstellung. Durch zeitsparende Verfahren erreichte man entscheidende Vereinfachungen.
Sie nennt zahlreiche, immer wiederkehrende Eigenheiten der Stickerei, einige von den auffallendsten seien hier wiedergegeben:
Die Figuren des simplen Ausgangsbildes stehen isoliert, wie ausgeschnitten auf einem flachen Terrain, vor den grossen goldenen Fadensonnen (Spiralsonnen) des Hintergrundes. Kräftige Konturen aus Seidenfaden umreissen sie, die Binnenzeichnung wird ein wichtiges Element der Stickerei. Die Flächen sind von leicht noppiger, stumpfer Filoflossseide bedeckt und die relativ langen Stickstiche verlaufen nicht mehr in der Form, sondern sind vorwiegend senkrecht ineinandergreifend versetzt, der Flachstich löst den Spaltstich ab.

Für die Aehnlichkeiten gäben gedruckte Vorlagen eine Erklärung ab. Autoren, wie z.B. Juliane von Fircks vertreten die Meinung, Werkstätten hätten Holzschnitte in der Art von Musterbüchern verwendet ("Reiche Bilder" 2010
http://www.annatextiles.ch/book_rev/rev2011/r3805_reic_zus/zusamm.htm)

Einer solchen These kann sich Ch. Jeitner aber nicht anschliessen, sind doch die Kompositionen der Holzschnitte differenzierter als die Bildgestaltung der Stickereien. Da die Holzschnitte zudem ein kleineres Format aufweisen als die Stickereien, wäre eine direkte Uebertragung der Formen auf den Stickgrund nicht möglich. Eher liesse sich vermuten, dass sich die Hersteller von handgezeichneten Stickereivorlagen auch an Holzschnitten oder Holzschnittentwürfen orientierten.

   

home content Last revised 12 November, 2011