ANNE WANNER'S Textiles in History   /  publications

"Anna selbdritt und die heiligen Cristophorus, Stephanus, Blasius und Laurentius ", um 1520
in: Sammlung Oskar Reinhart "Am Römerholz" Winterthur, Gesamtkatalog, Hgg. Mariantonia Reinhard-Felice, Basel 2003
Eintrag Nr. 170, S. 574-575, by Anne Wanner-JeanRichard, in german.

       
  Inventareintrag:
Technik: ein dunkelbraunes, leinenbindiges Wollgewebe ist mit farbiger Stickerei in Klosterstich (auch Ueberfangstich) verziert.
Material: farbige Wollfäden und etwas farbiges Seidengarn.
Masse: H 103cm  x  B  251cm.
Restaurierung: durch Monika Wieland, Boswil. Nach der Reinigung wurde das Antependium auf einen mit dunklem Stoff bezogenen Rahmen angebracht.
Geschichte des Kunstwerkes: erworben 1931, von Böhler, Luzern (R.Tg).
Ausstellung: Zürich 1940-41, Nr. 131, Winterthur 1955, Nr.185.
Literatur: Frehner 1993, S. 17, Abb.


Bibliographie (geordnet nach Publikationsjahr):
- Jenny Schneider, Schweizerische Bildstickereien des 16. und 17. Jhs, Bern 1960.
- Albert Knöpfli, Das von Ulm-Neidhard-Antependium aus St.Katharinenthal, in: Berichte der Gottfried Kellerstiftung, 1960 - 1962, S. 44-62.
- Marie Schütte und Sigrid Müller-Christensen, Das Stickereiwerk, Tübingen 1963, S. 214.
- Jenny Schneider, Schaffhauser Bildstickereien des 16. und 17. Jhs, in: ZAK, Bd. 23, Heft 3, Zürich 1963/64, S. 167.
- Wolfgang Müller, Die Villinger Frauenklöster des Mittelalters und der Neuzeit, in: 200 Jahre Kloster St. Ursula, Villingen 1982.
- Johann Michael Fritz, Das tausendjährige St.Blasien, 200 jähriges Domjubiläum, Ausstellung im Kolleg St. Blasien, 2. Juli - 2. Oktober, St. Blasien 1983.
- Saskia Durian-Ress, Meisterwerke mittelalterlicher Textilkunst aus dem Bayerischen Nationalmuseum, München 1986, S. 84.
- Irmgard Rapp, Textilkunst aus fünf Jahrhunderten in den Villiger Museen, München 1988, S. 18.
- Margrit Früh, Führer durch das Historische Museum des Kantons Thurgau, im Schloss Frauenfeld, Frauenfeld o.J. (1988).
- Albert Knöpfli, Das Kloster St. Katharinenthal, in: Schweizerische Kunstdenkmäler, Kanton Thurgau, Bd. IV, Basel 1989, S. 290.
- Anna Rapp Buri und Monica Stucky-Schürer, zahm und wild, Basel 1990.
- Sabine Viola Philipp, Der Tischteppich aus dem Bayerischen Nationalmuseum München, unpublizierte Magisterarbeit der Universität Bonn, Bonn 1997.


 



Zentrale Gruppe: Anna Selbdritt

 



Spruchband mit Zeichen, ev. Jahrzahl

 
 




Wandbehang: Anna Selbdritt, Historisches Museum des Kantons Thurgau

 




Detail, rechte Hälfte des Weihnachtswandbehangs, mit Franziskus, Villingen

 
 

Die Gruppe im Bildzentrum mit Anna, ihrer Tochter Maria und dem Enkelkind Jesus, wird seit dem späten Mittelalter als "Heilige Anna selbdritt" bezeichnet. Im Gegensatz zum offenen und lockigen, wallenden Haar Mariens, trägt Anna die Haube der verheirateten Frau. Sie reicht dem sich lebhaft bewegenden Kind eine granatapfelähnliche Frucht (1). Zu Füssen der beiden Frauen sind zwei Häschen abgebildet, zwischen ihnen befindet sich ein Spruchband mit Zahlen, die man als 1511 interpretieren kann.

Bei den auf beiden Seiten der Gruppe dargestellten Heiligen handelt es sich rechts um Laurentius mit dem Rost, und um Blasius mit der Bischofsmitra. Seine Benediktinerkutte verweist auf das Einsiedlerleben des Heiligen im Walde, Wolf und Schwein auf dem Wiesengrunde beziehen sich auf eine Legende, nach welcher ein diebischer Wolf auf Geheiss von Blasius einer Witwe das Schwein zurückbrachte, das er ihr gestohlen hatte. Auf der linken Seite durchschreitet Christophorus mit Christus auf den Schultern den von einem Fisch und einem Meerweibchen belebten Fluss. Der Heilige scheint in sich selber versunken, er beachtet den sich ihm zuwendenden Stephanus mit Märtyrerpalme und Steinen in der Kutte kaum.

Das Rankenwerk mit Vögeln des Hintergrundes erinnert in seiner Tapetenhaftigkeit an einen spätgotischen Wirkteppich. Doch der in die Tiefe führende Fluss, sowie der Zaun, der einen Teil der Gesellschaft eingrenzt, bringt räumliche Elemente ins Bild. Zudem stehen und sitzen die Heiligen auf einem festen Grunde, auf einer Blumenwiese mit Borretsch, Distel, Maiglöckchen, Erdbeere, Spitzwegerich, Löwenzahn, sowie mit recht summarisch wiedergegebene Grasbüscheln, hier halten sich auch die bereits erwähnten Tiere auf.


 

Bereits im 15. Jahrhundert entstanden im Gebiete des Oberrheins Wirkteppiche (eine dem Weben verwandte Technik) für kirchliche und profane Zwecke. Diese Tradition wurde seit der 1. Hälfte des 16. Jahrhunderts weitergeführt durch die ähnlich aussehenden, aber einfacher zu arbeitenden Stickteppiche. Figuren, Pflanzen, Tiere stickte man nun mit der Nadel auf ein bereits bestehendes Gewebe. Diese thematisch vielseitigen Wollstickereien waren auch sehr beliebte Schmuckstücke des bürgerlichen Hauses, und auf Grund von Wappen, Jahrzahlen oder Initialen lässt sich eine eigentliche Blüte dieser Kunst bis ins frühe 17. Jh. feststellen (2).

Ausgangspunkt für die Fragen nach Herstellungszeit und Herstellungsort (3) des Altarbehanges der Oskar Reinhart Stiftung, bildet das gewellte Band im Bildzentrum mit der Zahl 1511. Zum Vergleich seien hier zwei verwandte Stickereien mit bekanntem Herstellungsort herangezogen: der Weihnachtsteppich (78cm x 130cm), aus dem Klarissenkloster in Villingen, Süddeutschland heute im Museum dieser Stadt, wird ebenfalls ins beginnende 16. Jahrhundert datiert. Das spätgotische Rankenwerk des Hintergrundes, die sorgfältig und naturgetreu abgebildeten Blüten, wie die eher summarisch dargestellten Gräser der Wiese gleichen dem Altarbehang in Winterthur, zeigen aber im Hintergrund ein weniger ausgebildetes Raumgefühl. Die abgebildeten Wappen gehören den Familien Sattler von Croaria und von Münchwil, und aus den Klosterakten geht hervor, dass Anna, die Tochter des Andreas Sattler von Croaria (+ 1505) und der Ursula von Münchwil, von 1525 bis 1552 im ehemaligen Klarissenkloster als Aebtissin amtete (4). Die Entstehungszeit des bestickten Behanges kann somit im 2. Viertel des 16. Jahrhunderts liegen.


 



Detail, rechte Hälfte des Wandbehanges in Winterthur, mit Christopherus und Stephanus

 
 

Uebereinstimmungen anderer Art finden sich auf dem Antependium mit der "Heiligen Anna selbdritt", datiert 1588 (95cm x 152cm), im Historischen Museum des Kantons Thurgau, Frauenfeld. Beim Wappen handelt es sich um das Allianzwappen der Eltern der im Dominikanerinnenkloster St. Katharinenthal bei Diessenhofen lebenden Schwestern Margareta und Anna von Ulm . Diese Familie war zwar weit verbreitet und verzweigt, doch fand Albert Knöpfli (5), dass Caspar von Ulm und seine zweite Ehefrau, geborene Neidhard, mit dem Frauenkloster St. Katharinenthal in enger Verbindung standen. Im Jahre 1588 waren die beiden zwar bereits verstorben, und von den Töchtern Margaretha (+1583), Anna (+1600), und Barbara (+1574) lebte nur noch Anna. Margaretha ist 1565 und von 1569 bis 1570 als Priorin von St. Katharinenthal nachweisbar, Anna wird 1569 als Mitglied des dortigen Konventes genannt. Albert Knöpfli vermutet deshalb, dass die beiden Schwestern dieses Antependium stickten, vielleicht zum Gedächtnis an ihre Eltern. Hintergrund und Wiese auch dieses Altarbehang sind in ihrer Anordnung demjenigen der Oskar Reinhart Stiftung ähnlich, doch ist die Gestaltung der einzelnen Ranken und Blüten weniger reich. Dies kann auf die spätere Entstehungzeit oder auf eine weniger geübte und ausgebildete Hand zurückzuführen sein.

Für die Gruppe der Anna selbdritt scheint dieselbe Vorzeichnung gedient zu haben. In jenen Jahren, ja bis ins 20. Jahrnundert hinein, trugen verschiedene Personen die Verantwortung für Entwurf und Ausführung kunsthandwerklicher Arbeiten. Zudem liessen sich Werkzeichnungen oder Teile von ihnen mehrmals und über längere Zeiten hinweg verwenden, ein Gebrauch von 1520 bis 1588, wie im vorliegenden Falle, scheint denkbar. Man nimmt an, spezielle Zeichner hätten sich von graphischen Blättern, Tafelbildern, Skulpturen, Glasmalereien anregen lassen und entsprechende Vorbilder in den Massen 1:1 zu Werkzeichnungen umgearbeitet. Im Laufe der Jahre müssen diese gänzlich aufgebraucht worden sein, denn heute gibt es kaum mehr Spuren von ihnen (6).
 

Was nun den Herstellungsort des Altarbehangs der Oskar Reinhart Stiftung betrifft, so kann man sich darauf besinnen, dass abgebildete Heilige oft in Beziehung zu bestimmten Klöstern stehen. Der Heilige Blasius könnte auf den oberrheinisch-konstanzische Raum hinweisen, denn im Schwarzwald liegt das Benediktinerkloster St. Blasien, sowie der von hier aus gegründete Frauenkonvent Berau (7). Diessenhofen mit St. Katharinenthal und das ehemalige Klarissenkloster in Villingen sind davon nicht allzuweit entfernt.

Darstellungen der "Heiligen Anna selbdritt" kommen hier in verschiedenen Kunsthandwerken vor, zum Beispiel steht im Münster von Freiburg im Breisgau ein geschnitzter Altar von ca. 1512 mit einer entsprechenden Gruppe, dessen Schöpfer im engsten Umkreise des Breisacher Meistes H.L. zu suchen ist. Für die 1515 datierten Glasfenster der Annenkapelle desselben Münsters, ebenfalls mit einer Szene der "Anna selbdritt", wird Hans Baldung Grien, der Meister des Freiburger Hochaltars (1512-1517 in Freiburg) als Hersteller der "Visierungen" (Entwürfe) vermutet (8).

Die Zahl 1511 auf unserem Antependium könnte sich auf ein Ereignis dieses Zusammenhangs beziehen, denn im Vergleich mit verwandten Stickereien scheint sie als Entstehungszeit etwas früh angesetzt, eine Datierung nach 1520 würde eher überzeugen. Somit ist es denkbar, dass Benediktinerinnen von Berau, den Altarbehang mit "Anna selbdritt" auf der Grundlage einer Werkzeichnung eines elsässischen Meisters um 1520 verfertigten.

 
       
  Anmerkungen:
1) Das Motiv der beiden sitzenden, sich dem Kinde zuwendenden, ihm eine Frucht, ein Buch, usw. reichenden Frauen ist in der Spätgotik nördlich der Alpen beliebt, vgl. Hg. Wolfgang Braunfels, Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. 5, Freiburg 1973; Wolf Hart und Ernst Adam, Die künstlerische Ausstattung des Freiburger Münsters, Freiburg 1981, Abb. 170, und Detlef Zinke, Bildwerke des Mittelalters und der Renaissance im Augustinermuseum Freiburg, München 1995, S. 108.

2) Zu den Wirkereien im Gebiet von Basel und Strassburg vgl. Rapp und Stucky, in: zahm und wild, Basel 1990, S. 103, 104. Bisher gibt es zu den erhaltenen Wollstickereien keine systematischen Untersuchungen. Am meisten zu diesem Thema publizierte Jenny Schneider, die in verschiedenen Aufsätzen zur Wollstickerei in der Ostschweiz von der Sammlung des Schweizerischen Landesmuseums in Zürich, sowie vom Museum zu Allerheiligen in Schaffhausen ausgeht. Neuerdings bearbeitete Sabine Philipp, in ihrer unpublizierten Magisterarbeit, Bonn 1997, zwei Wollstickereien des Bayerischen Nationalmuseums München.

3) Die Frage nach den Herstellerinnen muss im vorliegenden Falle unbeantwortet bleiben, weil es weder für den Herstellungsort noch für die Entstehungszeit Dokumente gibt. Allgemein dazu seien 2 Autoren zitiert: E. Egli, Schweiz. Handstickerei im 16. Jh., in: Zwingliana, Bd. 1, 1897-1904, erwähnt private Briefe von Antistes Heinrich Bullinger (1504-1575), in denen seine Töchter Veritas und Dorothea als Stickerinnen genannt sind. Hier ist auch von einem Zeichner aus München die Rede, der die Vorlage zu einem Tischteppich "immer noch nicht nach Zürich gesandt habe". Die Untersuchungen zur Innerschweizer Stickerei von Canonicus R.L. Suter bestätigen vor allem für das 17. Jh., dass das Sticken zu den bevorzugten Tätigkeiten von Klosterfrauen gehörte.

4) Ueber die Kunstwerke des ehemaligen Klarissenklosters in Villingen vgl. Wolfgang Müller, Die Villinger Frauenklöster des Mittelalters und der Neuzeit, in: 200 Jahre Kloster St. Ursula, Villingen, 1982, S. 56, sowie Irmgard Rapp, Textilkunst aus fünf Jahrhunderten in den Villinger Museen, München 1988, S. 18, 19.

5) Albert Knöpfli, Das von Ulm-Neidhard-Antependium aus St. Katharinental, in: Berichte der Gottfried Keller-Stiftung, 1960-62, S. 56. Weitere Altarbehänge mit ähnlicher Aufreihung von Heiligen auf einer Wiese, vor Hintergrund mit Ranken sind: Fragment mit Hl. Sebastian, publiziert in: Saskia Durian-Ress, Meisterwerke mittelalterlicher Textilkunst aus dem Bayerischen Nationalmuseum, München 1986, S. 84, und das Antependium aus dem Kloster Tänikon, Thurgau, heute in München, Bayerisches Nationalmuseum, publiziert in: Schweiz. Kunstdenkmäler, Kanton Thurgau, Bd. I, S. 349.

6) In älterer Literatur sind oft graphische Blätter als Inspirationsquelle erwähnt, vgl. Jenny Schneider, Vorlagen für das Schweizerische Kunstgewerbe, in: ZAK, 1956, S. 157. Dem Problem der Vorlage gehen Rapp und Stucky nach in: zahm und wild, Basel 1990, S 41; sie definieren den in alten Inventaren vorkommenden Begriff "bildner" als im Massstab 1:1 angefertigte Vorlage, die aus technischen Gründen jeweils spiegelverkehrt zum künstlerischen Entwurf ausgeführt erscheint. Bei den "Anna selbdritt Gruppen" kann Anna auf Christi linker oder rechter Seite abgebildet erscheinen, ob dies auch hier mit einer spiegelseitigen Umkehrung des Entwurfes zusammenhängt, ist unklar.

7) Die Reformbewegung der Benediktiner führte im Schwarzwald zu Gründungen von Frauenklöstern z.B. entstand das Kloster Berau bei Waldshut um 1108 von St. Blasien aus. Neben Kontakten zu St. Blasien unterhielt Berau auch Beziehungen zu Villingen, vgl. Joh. Michael Fritz, in: Das tausenjährige St. Blasien, St. Blasien 1983, Bd. II, S. 253-259. Eine mögliche Herstellung der Pluviale des 12. Jhs, mit den Viten des Heiligen Vinzenz und des Heiligen Blasius durch die Benediktinerinnen aus Berau wird hier erwogen (vgl. Bd. I, S. 170), archivalische Belege liegen allerdings nicht vor.

8) Zu den Gruppen der "Anna selbdritt" vgl: Detlef Zinke, Bildwerke des Mittelalters und der Renaissance im Augustinermuseum Freiburg, München 1995, S. 108,110; Wolf Hart und Ernst Adam, Die künstlerische Ausstattung des Freiburger Münsters, Freiburg 1981, S. 174; Ingeborg Krummer-Schroth, Glasmalereien aus dem Freiburger Münster, Freiburg i.Breisgau, 1967, S. 126, und H. Peske, Hans Baldungs Schaffen in Freiburg, Freiburg 1941.

       
     

content  Last revised 15 January 2006