ANNE WANNER'S Textiles in History   /  publications

Goethes Faust und das Textilmuseum St.Gallen
in: Jubiläumsschrift 125 Jahre Textilverband Schweiz, Textil- und Bekleidungsindustrie 1998, S.51-54
by Anne Wanner-JeanRichard
Erweiterung des Aufsatzes mit Bildern im März 2008
 
  Vor wenigen Jahren gelangte eine interessante Stickerei ins Textilmuseum: es handelt sich um eine runde Tischdecke mit vielen handgestickten Illustrationen zu Goethes “Faust”. Abgebildet sind Faust und Mephisto im Studierzimmer, der studierende Dokor Faust, dann Faust, der Gretchen zum Spaziergange einlädt und später mit ihr im Park lustwandelt. Gretchen kommt ebenfalls mehrmals vor, mit Freundinnen am Brunnen, im Gefängnis, oder im Zwinger.

Die Decke befand sich ehemals im Besitz einer deutschen Familie. Die Besitzerin fühlte sich jedoch mit der Betreuung dieser feinen, etwa 100 Jahre alten Stickerei etwas überfordert und brachte sie zunächst ins Historische Museums Basel. Die dortige Konservatorin steht in freundschaftlichem Kontakt zum Textilmuseum St.Gallen, und sie sandte die Stickarbeit dahin. Hier konnte bald festgestellt werden, dass die gestickten Faust-Szenen zu einer Gruppe von Stickereien gehören, die in der Ostschweiz entstanden sein müssen. Die deutsche Besitzerin war in grosszügiger Weise bereit, die Decke dem Textilmuseum zu einem symbolischen Preise zu überlassen
  Nach einigem Suchen in der Kantonsbibliothek Vadiana in St.Gallen, liessen sich die Vorlagen zu den Bildern aufspüren, und zwar in prächtigen, mit Kupferstichen illustrierten Ausgaben von Goethes Faust.
Diese Bücher gelangten aus dem Nachlass der Familie Bernet-Wille in die Bibliothek. Es ist nun bekannt, dass der Prediger und Gelehrte Johann Jakob Bernet (1800-1851) durch Erwerbung guter Reproduktionen das allgemeine Kunstinteresse förderte und durch seine Aufträge auch einheimischen Kupferstechern zu lohnender künstlerischen Betätigung verhalf.

Sein Sohn Erwin Bernet (1836-1910) übte den Beruf eines Dessinateurs aus. Die eine der erwähnten Faust-Ausgaben erschien im Jahre 1854, und als Illustrator ist im Buch Engelbert Seibertz (geb. 1813) genannt. Damals hatten Autorenrechte nicht dieselbe Bedeutung wie heute, es war keineswegs ungewöhnlich, dass Seibertz Zeichnungen des Düsseldorfer Künstlers Peter Cornelius (1783-1867) als Grundlage für seine Bilder verwendete, die jener im Jahre 1816 erstmals als Kupferstiche publiziert hatte.
  In der Kantonsbibliothek findet sich ein weiteres Buch mit Bildern zu Faust aus der Familie Bernet-Wille.Hier heisst der Illustrator A. Zick und Moritz Ehrlich gab diese 8. Auflage im Jahre 1883 in Berlin heraus.

Der Vergleich mit den Kupferstichen zeigt, dass die Vorlagen zu den Stickereien aus den beiden genannten Büchern stammen müssen, die sich sehr wohl im Besitz des Stickereizeichners Erwin Bernet befunden haben können, ja, es wäre denkbar, dass er selber die Kupferstiche zu Vorlagen für Stickereien umarbeitete.

Im ausgehenden 19. Jahrhundert fanden Textilzeichner zwar vor allem Aufträge und Arbeit in der Stickereiindustrie, hatte sich doch die Maschinenstickerei in St.Gallen zu hoher Blüte entwickelt, dennoch war die feine Handstickerei nicht gänzlich verschwunden, im Gegenteil, sie lebte im Kanton Appenzell-Innerrhoden als Spezialitätenstickerei wieder auf. Es gab um die letzte Jahrhundertwende manche sehr fähige Handstickerinnen, welche die Stickereien ausgeführt haben könnten.

     
   


Reproduktion einer Zeichnung des Düsseldorfer Künstlers Peter Cornelius (1783-1867)
 

Kupferstich aus der illustrierter Faust-Ausgabe, 8. Auflage im Jahre 1883, Berlin, Illustratoren: A. Zick und Moritz Ehrlich


Detail aus der Stickerei: Faust lustwandelt mit Gretchen im Garten, 2.Hä.19. Jh.,
Textilmuseum St.Gallen, Nr. TM 43720

           


Reproduktion einer Zeichnung des Düsseldorfer Künstlers Peter Cornelius (1783-1867)
 

aus der illustrierter Faust-Ausgabe, Kupferstich von
Engelbert Seibertz
(geb. 1813)


Detail aus der Stickerei: "schönes Fräulein, darf ich's wagen ..."
       



Detail aus der Zeichnung von Peter Cornelius

 



Detail aus der Stickerei



Detail aus der gestickten Tischdecke

       
   

Details aus dem Kupferstich und aus der Stickerei
       


Detail aus der Zeichnung von Peter Cornelius (1783-1867), Gretchen im Kerker
 

Detail aus dem Kupferstich von Engelbert Seibertz


Detail aus der Stickerei
       



Detail aus der Zeichnung von Peter Cornelius



Detail aus dem Kupferstich von Engelbert Seibertz


Detail aus der Stickerei: Gretchen im Kerker

           
  Im Zeitalter des Historismus war es auch keine Seltenheit, Kupferstiche aus bekannten Werken als Stickereivorlagen zu verwenden. So besitzt das Textilmuseum St.Gallen eine Decke mit Szenen aus dem Leben Napoleons.

Die Darstellungen gehen zurück auf Bilder des Malers Horace Vernet (1789-1863), der im Jahre 1839 eine Geschichte Napoleons I. illustrierte.
  Auch der Künstler Adolf Menzel (1815-1905) versah in den 1840er Jahren eine Lebensgeschichte Friedrichs des Grossen mit Bildern. Jahrzehnte später wurden davon einige in Stickerei umgesetzt, die entsprechende handgestickte Decke erwarb das Museum in Nürnberg.
Andere Stickereien in unterschiedlichen Grössen, aber alle in sehr ähnlichen Stil, befinden sich heute in den USA und in Schweizer Privatbesitz.
  Von allen diesen aufgezählten Handarbeiten weist jedoch einzig die Faust-Decke auf Erwin Bernet als Zeichner. Sicherlich stellten andere Dessinateure ebenfalls Vorzeichnungen für Handstickereien her, sie blieben aber grösstenteils unbekannt, und auch über die Stickerinnen oder Stickateliers haben sich keine Nachrichten erhalten.

  Neben dem Sammeln von Textilien bildet das Aufspüren von Zusammenhängen und vergessenen Tatsachen einen Teil der Arbeit am Textilmuseum, fehlen doch bei älteren Beständen wie bei Neueingängen in den meisten Fällen Signaturen und Dokumente.
Im Folgenden seien einige kurze Bemerkungen zur über 100jährigen Entwicklung des Hauses an der Vadianstrasse beigefügt.

Als Schule, Museum und Bibliothek im Jahre 1886 unter einem Dache vereint wurden, besassen diese drei Fachgebiete bereits ihre eigene Geschichte.
Das Museum sammelte seit 1878 historische Vorbilder, denn das Betrachten von historischen Spitzen, Stickereien und Geweben sollte mit zur Ausbildung von Stickereizeichnern beitragen. Der erste Museumsdirektor Heinrich Bendel (1845-1931) sah die Aufgabe des Museums folgendermassen: “das Museum bezweckt die Pflege und Förderung des ganzen Erwerbslebens unserer Stadt, unseres Kantons, unseres Industriegebiets. Seine Wirkung gilt in erster Linie der derzeit alle anderen Industriezweige überholenden Textilindustrie.”

Der Beruf des Stickereizeichners liess sich seit 1867 an der Zeichnungsschule erlernen. Johannes Schlatter-Brüngger (1822-1899) hatte bereits 1863 in einem Zeitungsartikel empfohlen, eine Zeichnungsschule nach Pariser Vorbild zu gründen. In den ersten Jahren unterrichtete Schlatter alleine, und bis 1886 bildete er nahezu 100 Dessinateure aus. Er empfand vor allem Pflanzenzeichnen als wichtig, und meinte, nur strenges Stilisieren führe zu jener Eleganz, die vor allem die französischen Arbeiten auszeichne. Als wichtige Aufgabe sah er überdies den Kontakt zu gewerbetreibenden Kreisen an.

Für die Ausbildung der Zeichner spielte auch das Musterzimmer im Direktorialgebäude an der Gallusstrasse eine wichtige Rolle. Hier konnten die Schüler abonnierte Textilmuster aus Frankreich einsehen. Zusammen mit den gedruckten Büchern, Zeitschriften und graphischen Vorlagen entstand aus diesem Musterzimmer die Bibliothek.

Als Heinrich Bendel im Jahre 1883 aus Gesundheitsgründen als Museumsdirektor zurücktrat, übernahm Emil Wild (1856-1923) im neuen Gebäude die gesamte Leitung bis 1923. Daraus ergab sich ein enges Zusammenwirken der drei Institute bis in die 1920er Jahre.
Der Direktor oder seine Beauftragten kauften einzelne Museumsstücke in Antiquariaten, auf Reisen oder anlässlich von Ausstellungen, zudem erweiterten Schenkungen die Museumsbestände.
  Eine der bedeutendsten war diejenige Leopold Iklés um 1900. Die Sammlung seines Neffen John Jacobys kam im Jahre 1955 dazu. Wenige Jahre später umfassten die Bestände bereits 20’000 Textilien.

Seit den 1970er Jahren erwies sich die konservatorische und restauratorische Betreuung
als dringende Aufgabe. Ebenso wurde die Vereinheitlichung des Inventars, wie das Photographieren aller Objekte an die Hand genommen. Später bildeten diese Arbeiten eine wichtige Grundlage für die Computerisierung der Bestände.

Seit 1978 stammen viele Schenkungen aus privatem Besitz und aus Haushaltauflösungen, zudem ergänzen einzelne lose Muster der Stickereiindustrie und auch Stickereistoffe aus neuerer Zeit die Sammlung des Museums.
Heute sind hier ungefähr 30’000 Objekte vereint, alles aussagekräftige Dokumente handwerklicher Fähigkeiten, die auf die Textilgeschichte und auf die Ostschweizer Textilindustrie und deren Produktion hinweisen.




An der Zeichnungsschule unterrichteten bekannte in- und ausländische Künstler, wie z.B. von 1892 bis 1898 Emil Hansen, genannt Nolde (1867-1956). Zuerst vermittelte er den Schülern die Kenntnis historischer Ornamente, bald aber begeisterte er sich für den Jugendstil, der zu jener Zeit in München entstand. Die St. Galler Vorgesetzten Noldes verstanden diesen Wandel nicht und der Künstler musste die Stadt verlassen.

Johannes Stauffacher lehrte das Stilisieren nach Pflanzenzeichnungen, mit seinem künstlerischen Individualismus konnte er jedoch den Bedürfnissen der Industrie nicht genügen. Die Auseinandersetzungen führten dazu, dass er 1904 in St.Gallen eine eigene Zeichnungsschule eröffnete.
In einem Bericht sind die ersten Schüler dieser neuen Stauffacherschule aufgeführt, hier findet sich im ersten und im zweiten Jahr als Schülerin, die später sehr berühmt gewordene Sophie Taeuber Arp. Einzelne Kurse belegte sie in den folgenden Jahren als Hospitantin im Institut an der Vadianstrasse.

Ludwig Otto Werder unterrichtete seit dem ersten November 1896 das Fach Musterzeichnen für Maschinenstickerei, und ihm gelang es, Jugendstilformen in seiner Heimatstadt beliebt zu machen.
  Schon im 19. Jh. besuchten Zeichner und Zeichnerinnen den Schulunterricht - die Ausbildung war für beide gleich. Später fanden die Frauen allerdings in der Industrie nur schwer eine Stelle. Einige von ihnen, z.B. Elise Rüdin (1864-1956) und Gertrud Hauser (1860-1945), blieben als Zeichnungslehrerinnen für die Mädchenklassen an der Schule.

Diese Abeilung, die “ weibliche Handarbeiten” und später “Kunststickerei” hiess, wurde geleitet von Anna Schelling (1873-1960).



Neben dem Museum und der Zeichnungsschule entwickelte sich auch die Bibliothek zu einem einzigartigen Institut. Es findet sich hier ältere und neueste Literatur für Textilinteressierte und zudem eine grosse Anzahl von Musterfolianten der bedeutendsten St.Gallen Stickereifirmen seit den 1880er Jahren. Ehemals befanden sich diese Musterbücher in den Musterzimmern von Stickereiunternehmen. Hier wurden die Muster aus den jährlich mindestens zweimal zusammengestellten neuen Musterkollektionen einer vorgegebenen Numerierung entsprechend eingeklebt, heute geben sie wichtigen Auskunft über die Produktion der Stickereiindustrie.
Die Bücher konnten in mehreren Ausführungen hergestellt werden: ein Buch blieb als Vorführbuch für Kunden im Musterzimmer, ein anderes war für die Zeichner und für das Firmenmuseum bestimmt, ein weiteres diente der Speditionsabteilung.


Heute haben sich die drei Institute zu eigenständige Abteilungen entwickelt. Durch ihre Trägerschaft, die Stiftung der IHK, blieben Museum und Bibliothek lose miteinander verbunden. Die Zeichnungsschule steht mit neuen Zielsetzungen unter der Leitung der Schweizerischen Textilfachschule, und Textilentwerfer in den Richtungen Stickerei, Weberei und Druck erhalten hier einen wichtigen Teil ihrer Berufsausbildung.
     
   
     
   

content Last revised 16 March, 2008