ANNE WANNER'S Textiles in History   /  publications

St.Galler Stickereispitze um die Jahrhundertwende - Der Entwerfer Ludwig Otto Werder
von Anne Wanner-JeanRichard, in: Spitze, Luxus zwischen Tradition und Avantgarde, hgg. von Giesela Framke, Museum für Kunst und Kulturgeschichte der Stadt Dortmund, Edition Baus, 1995, S. 76-84

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zu den Literaturzitaten: Abkürzungen der Berichte
Verwaltungsbericht KD = Verwaltungsbericht des Kaufmännischen Directoriums an die kaufmännische Korporation in St. Gallen, l. Nov. bis 31. Oktober
Bericht Zeichnungsschule
= Jahresbericht der Zeichnungsschule für Industrie und Gewerbe in St. Gallen (gegründet vom Kaufmännischen Directorium), l. Mai bis Ende März, l. Bericht 1883 bis 9. Bericht 1892
Bericht IGM = Bericht über das St. Gallische Industrie und Gewerbe-Museum, St. Gallen, l. Bericht 1878 bis 15. Bericht 1892,
seit 1892 Zusammenlegung von Bericht Zeichnungsschule und Bericht IGM zu: Bericht IGM: Bericht über das Industrie- und Gewerbe Museum St. Gallen und über die Zeichnungsschule für Industrie und Gewerbe, l. Mai bis 30. April

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Einführung
Sankt Gallen in der Ostschweiz besitzt eine lange Tradition in der Produktion von Textilien, handelten doch St. Galler Kaufleute seit dem 13. Jahrhundert mit Leinwand (1) und seit dem frühen 18. Jahrhundert mit Baumwolle. Gegen 1730 verdiente vor allem die arme Bevölkerung in der Umgebung mit Baumwollspinnen und Weben etwas Bargeld, eine Arbeit, die sie mit der Einführung von englischem Maschinengarn verlor. Später fanden manche in der Stickerei neue Möglichkeiten. Bis gegen 1850 handelte es sich um reine, von Heimarbeiterinnen ausgefürte Handarbeit; um die Mitte des 19.Jhs begann sich die Maschinenstickerei in und um die Stadt herum zu entwickeln (2). Die ersten Handstickmaschinen warend technische Wunderwerke, die ein Sticker mit Händen und Füssen betrieb. Erst im Laufe der Jahre verhalfen Wasserkraft und Elektrizität und andere Maschinentypen wie Schifflistickmaschine und der mit einem Jacquardsystem verbundene Schiffliautomat der Produktion zu einer Steigerung. Die Handstickerei zog sich seit den 1880er Jahren ins Appenzellerland zurück, wo unweit St. Gallens, in einer hügeligen Landschaft, vor allem Kleinbauern lebten. Hier mußten viele Frauen Heimarbeit ausführen, denn der Erwerb aus Milchwirtschaft, Rinder- und Schweinezucht reichte kaum zum Leben.
Ein wesentlicher Beitrag zur St. Galler Textilindustrie bedeutete die Erfindung der Stickereispitze. Dabei dient ein Trägergewebe als Stickboden, der mittels chemischer Vorgänge weggeätzt wird, so daß die Stickerei als Ätzspitze übrig bleibt (3). Seit 1883 ließen sich auf diese Weise immer kunstvollere Spitzenmuster herstellen.

Als Vorlagen und Vorbilder dienten historische Spitzen. Die Produzenten gaben sich erst zufrieden, als die Ätzspitzen sich kaum mehr von venezianischen Barockspitzen, Filetarbeiten, irischen Häkelspitzen, Klöppelarbeiten usw. unterschieden.
Über die Gestaltung textilen Dekors vom späten 19. zum frühen 20. Jahrhundert gibt es etliche Untersuchungen. Sie behandeln Handstickereien oder Stoffe mit Web- und Druckmusterung, doch Maschinenstickerei und Stickereispitzen fanden wenig Beachtung. Dies mag daran gelegen haben, daß die Spitzen zu jener Zeit entweder als Handarbeit in Heimindustrien oder als Maschinenarbeit in Fabriken entstanden, und zum Ende des 19. Jahrhunderts Maschinenarbeiten als Kunstwerke nicht ernst genommen wurden; man lehnte sie von vornherein ab.
Nicht nur die Entwerfer blieben meistens unbekannt, auch Händler und Unternehmer waren kaum daran interessiert, die genaue Herkunft ihrer Produkte offenzulegen. Die frühesten St. Galler Maschinenstickereien der 1860er Jahre hießen z. B. „Hamburghs", denn der Hamburger Zwischenhändler, der sie nach Amerika exportierte, wollte seine Konkurrenten nicht auf das Herkunftsland dieser Arbeiten aufmerksam machen.
Es ist das Ziel der vorliegenden Untersuchung, aufzuzeigen, daß man für Maschinenstickereien Musterzeichner mit besonderen Fähigkeiten benötigte, daß diese Dessinateure ihre spezielle Ausbildung an Schulen erhielten, und daß sie sich wie die Fabrikanten bemühten, künstlerisch wertvolle Entwürfe in Maschinensprache zu übertragen.

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1 - Ziegler, Ernst: Zur Geschichte des St. Gallischen Leinwandgewerbes, in: Rorschacher Neujahrsblatt 1983, 73. Jahrgang, S. 51; und: Vom Leinwandgewerbe, in: Stoffe und Räume, Langenthai 1986, S. 78
2 - Wartmann, Hermann: Industrie und Handel 1876-1880, St. Gallen 1887 und 1891-1900, St. Gallen 1918
3 - Steiger-Züst, E.A.: Die Erfindung der Ätztechnik, in: Die Stickereiindustrie an der Schweiz. Landesausstellung Bern 1914,S. 36

     

Pflanzenstudie, stilisierte Brombeerranke
von Albert Kästle, 1890
Zeichnungsschule St.Gallen, Textilbibliothek

Pflanzenstudie, Blütenzweig nach Natur,
von H. Bantle, Ende 19. Jh.
Zeichnungsschule St.Gallen, Textilbibliothek

Pflanzenstudie, Zweig mit Doldenblüten,
von Sophie Meinherz, um 1900,
Zeichnungsschule St.Gallen, Textilbibliothek
 
Die Zeichnungsschule in St. Gallen - Fischbach, Stauffacher
Die Maschinenstickerei konzentrierte sich in zwei wichtigen europäischen Zentren: Im Vogtland (Sachsen), mit dem Mittelpunkt Plauen, gingen im letzten Weltkrieg viele Dokumente verloren. St. Gallen in der Schweiz dagegen hatte keine Verluste: alle Vorlagen, die Schüler und Entwerfer der Jahrhundertwende gebrauchten, sind bis heute zugänglich.
Da St. Gallen keine traditionsreiche Akademie besaß, gründeten Unternehmer und die mit ihnen verbundene Handelskammer am 11. November 1867 eine Zeichnungsschule. Sie bot einen Kurs für Anfänger, einen Fortbildungskurs für Musterzeichner und eine systematische Ausbildung zum Musterzeichner. (4) Einige St. Galler Fabrikanten beurteilten die Schule zuerst skeptisch, fanden sie aber bald nützlich. Man unterschied zwischen ausgebildeten Entwerfern und solchen, die ihren Beruf im Fabrikationsbetrieb lernten. Entwerfer arbeiteten in St. Gallen vorwiegend für die Maschinenstickerei. Wie weit die Heimindustrie bei handgearbeiteten Weißstickereien Künstlerentwürfe verwendete, ist bis anhin noch wenig erforscht. (5)
Am 29. Juli 1878 gründete das Kaufmännische Directorium das Industrie- und Gewerbemuseum (heute Textilmuseum). Vorbild war das Wiener Museum (1864) mit angeschlossener Kunstgewerbeschule (1868). Heinrich Bendel (1845-1931), erster Direktor in St. Gallen, reiste 1878 nach Wien, um die dortigen Institute zu studieren (6), die damals unter der Leitung von Rudolf von Eitelberger ganz in der historistischen Tradition standen. Das im Neurenaissance-Stil gestaltete Treppenhaus des St. Galler Textilmuseums weist auf den Wiener Historismus, den Bendel während seines Aufenthaltes kennenlernte.
Bendel beabsichtigte, vier Einrichtungen in einem Haus zusammenzuschließen, die Zeichnungsschule, die Textilsammlung, die Bibliothek und die Gewerbesammlung (letztere ging 1912 an die städtische Gewerbeschule über). 1886 wurde ein neues Gebäude für die Institute errichtet.(7) Bendel mußte sich bereits 1882 aus Gesundheitsgründen zurückziehen. Als neuen Leiter für die Zeichnungsschule ließ sich Friedrich Fischbach aus Hanau gewinnen, wo er seit 1870 Ornamentik lehrte. Nun kamen zum eigentlichen Zeichnungsunterricht verschiedene Spezialkurse und Unterricht in Ornamentik und Stillehre hinzu.(8)
Fischbach hatte in Berlin und Wien die Sammlungen historischer Gewebe studiert und deren Muster nachgezeichnet. Auf seinen Reisen legte er selber eine Gewebesammlung an, die er dem Museum in St. Gallen verkaufte. (9)
Sein Werk „Ornamente der Gewebe" widmete er ebenfalls St. Gallen, da diese Stadt ihm einen „seinen Talenten entsprechenden Wirkungskreis bot".(10) Leider endeten die Beziehungen weniger rühmlich, als es die Anfänge erhoffen ließen. Nach fünf Jahren verlängerte man Fischbachs Vertrag nicht mehr.(11) Die Direktorenstelle der Zeichnungsschule wurde aufgehoben; es gab nun nur noch den Direktor des Museums, der seit diesem Zeitpunkt auch die administrative Schul-
leitung inne hatte.(12)
Als neue Lehrkraft berief das Kaufmännische Directorium Johannes Stauffacher (1850-1916), der als einer der ersten Schüler die St. Galler Zeichnungsschule absolviert und sich anschließend in Paris zum anerkannten Zeichner weitergebildet hatte. Am 7. Mai 1888 übernahm er den Unterricht im „Stilisieren und Componieren unter besonderer Berücksichtigung der Bedürfnisse unserer Industrie", wobei „das Studium der Naturformen die solide Basis bilden muß, auf welcher sich das Können der Zeichner weiter entwickelt" (13). Mit dem Direktorenwechsel in St.Gallen vollzog sich eine Reform im stillen: man
kehrte sich ab von Fischbach und damit auch von den Grundlagen, welche Bendel noch in Wien studiert hatte. Hier waren Architekten, Bildhauer, Maler vom Geiste der Renaissance durchdrungen. In ihr sah man den vorbildlichen Kunststil, ja den deutschen Nationalstil, im Gegensatz zum französischen. In St. Gallen blickte die Textilindustrie traditionsgemäß eher nach Frankreich, denn es herrschte die Meinung, wahre Eleganz liege im französischen Barock und vor allem im Rokoko. Nach kurzem Historismus unter Fischbach glaubte man, mit dem in Paris weitergebildeten Stauffacher, der sein Vorbild vor allem in der Natur sah und eine naturalistisch-ornamentale Richtung vertrat, den richtigen Weg zu beschreiten.

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4 - Verwaltungsbericht KD, 1867/1868, St. Gallen 1869, S.16,17
5 - Wanner, Anne: Wilhelm Koch und die feine Reliefslickerei in der Ostschweiz, in: Zeitschrift für Archäologie und Kunstgeschichte, 4, 1993, S. 367
6* - Strässle, Monica: Die textil-gewerblichen Bildungsinstitute in St. Gallen, in: Stickereizeit, St. Gallen 1989, S. 52; und: Bendel, H., Studienberichte aus Wien an das Kaufmännische Directorium in St. Gallen, St. Gallen 1878, S. 6
7 - 9. Bericht IGM 1886, St. Gallen 1887, S. l; und 10. Bericht IGM 1887, St. Gallen 1888, S. l
8 Verwaltungsbericht KD 1881/82, St. Gallen 1883, S. 14; 5. Bericht IGM 1882, St. Gallen 1883, S. 16; l. Bericht Zeichnungsschule
1883/1884, S. 4
9 - Der Erwerb von Geweben von Fischbach ist bereits genannt im l. Bericht IGM 1878, St. Gallen 1879, S. 3. Die eigentliche Sammlung kam 1882 nach St. Gallen. Fischbach verkaufte sie für M 15 000 oder sFr. 18 750 zu jährlichen Raten von mindestens sFr. 3000 (Verwaltungsbericht KD 1881/1882, St. Gallen 1883, S. 17).
Im l. Bericht Zeichnungsschule, 1883/1884, S. 4,5 werden 1206 Textilgegenstände genannt, neben Bucheinbänden, Buntpapieren, Druckmustern, Steingut-Ornamenten und einem indischen Bronzepfau. Im Inventarbuch des Museums Bd. l sind Fischbach-Texlilien aufgeführt von Nr. 865 bis Nr. 1546
10 - Im Einführungstext zu „Ornamente der Gewebe" von Friedrich Fischbach, Hanau 1883, S. IX
11 - Verwaltungsbericht KD 1886/1887, St. Gallen 1888, S. 23, 24; sowie 5. Bericht Zeichnungsschule 1887/1888,S. 7
12 - 6. Bericht Zeichnungsschule 1888/1889, S. 3
13 - ebda, S. 7; sowie bei Johannes Stauffacher in seinem Buch: Studienreisen, St. Gallen 1897, S. 181


 

Heinrich Bendel (1845-1931)
erster Direktor in St. Gallen bis 1882
*zur Entwicklung der Schule vgl. Anm. 6

J. Schlatter-Brüngger (1822-1899)
erster Lehrer der Schule für Musterzeichner
von 1867-82

Emil Wild, (1856-1923)
Direktor des Industrie- und Gewerbemuseums 1886-1923

Johannes Stauffacher (1850-1916)
Leiter der Zeichenschule von 1888-1904
 
Jugendstil - "das Stilisieren der Formen"
In den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts tauchten an verschiedenen Orten in Europa der Wunsch und das Bedürfnis nach einem neuen Stil auf. Ein wichtiger Anstoß bedeuteten der ostasiatische und der japanische Einfluß, die sich unter anderem über damals neu
gegründete Zeitschriften verbreiteten. Man hoffte, das „darniederliegende europäische Kunstgewerbe" würde an japanischer Kunst Halt und Vorbild gewinnen, das Dekorative gegenüber dem Imitativen aufgewertet werden. Man bewunderte die japanischen Künstler, die jede einzelne Blumenform in sich als Ornament auffaßten und Ausschnitte in begrenzter, nahsichtiger Einblicksöffnung gaben. Hier zeigte sich die Verbindung von ungebrochener Naturfrische, feinsten dekorativem Geschmack und höchster stilistischer Sicherheit. 1888 hatte der Kunsthändler Samuel (oder auch Siegfried) Bing in Paris die Zeitschrift „Le Japon Artistique" ins Leben gerufen und 1896 dort die Galerie „Art Nouveau" mit modernen Kunstgegenständen eröffnet (14), die heftige Reaktionen hervorriefen. Konservative Kreise warnten die Entwurfszeichner vor den Neuerungen; sie sahen eine Gefahr für die gute Position, welche die französische Kunstindustrie sich in der Vergangenheit erarbeitet hatte, eine Position, die auf der Treue zur Tradition des 18. Jahrhunderts beruhte.
Die St. Galler Industriellen interessierten sich immer für neue Märkte, auch für Ostasien. Schon im Jahre 1860 hatte das Kaufmännische Directorium versucht, in Japan und in China Absatzgebiete zu finden.(15) Ein ebensogroßes Interesse bestand für den japanischen Musterstil, und seit dem ersten Erscheinen der Zeitschrift „Le Japon Artistique" lag das Heft nicht nur in der Textilbibliothek, sondern ebenso in manchen Musterzimmern von Fabrikanten (16). Auch die noch heute in dieser Bibliothek zugänglichen Vorlagenmappen hatten einen nicht zu unterschätzenden Einfluß auf die Musterbildung.
Vorlagen vom Anfang der 1890er Jahre zeigen vorherrschend Naturalismus. In der Natur sah man das „nie versagende Vorbild für Farbe und Form". (17) Über das Stilisieren der Formen gab es unterschiedliche Ansichten. Den Franzosen wurde vorgeworfen, die Gesetzmäßigkeiten von Symmetrie und Flächenverzierung zu wenig zu beachten; dies führe zu einem wilden Naturalismus. Die einen verstanden unter Stilisieren das etwas strengere Zeichnen und das Weglassen von Unwesentlichem, während Künstlerpersönlichkeiten die Pflanzenwelt nach ihren eigenen Vorstellungen idealisierten.
Gegen Ende der 1890er Jahre fanden manche Künstler und Textilentwerfer im floralen Jugendstil eine besonders für Druckstoffe geeignete Dekorationsweise. Es herrscht heute die Ansicht, Otto Eckmann (1867-1902) habe diese besondere Stilisierung wesentlich geprägt. Durch den Hamburger Museumsdirektor Justus Brinckmann lernte Eckmann japanische Holzschnitte kennen, in München zählte er seit 1896 zu den Mitarbeitern der Zeitschrift „Jugend", seit 1897 unterrichtete er am Kunstgewerbemuseum in Berlin. (18) Seine Linien zeigten anfangs wuchernde, schlängelnde Formen, zum Teil willkürlich und unorganisch verdichtet und verjüngt. Sie übersättigten in kurzer Zeit das Geschmacksempfinden. Seine Linienführung wurde später zunehmend strenger und abstrakter, die Naturform in eine geometrische Rahmen- oder Blattform gepreßt. Mit seinem Tod im Jahre 1902 endete die florale Stilrichtung.
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14 - Erwähnt bei Ruth Grönwoldt, Art Nouveau Textildekor um 1900, Katalog zur Ausstellung des Württembergischen Landesmuseums, Stuttgart 10. Juli - 31. August 1980, S. 89
15 - Lindau, Rudolf: Handelsbericht an das Kaufmännische Directorium in St. Gallen, über Shanghai in China, St. Gallen 1861; und über Japan, St. Gallen 1862
16 - Die Zeitschrift „Le Japon Artistique" befindet sich im alten Bestand der Textilbibliothek St. Gallen sowie unter den 1985 geschenkten Büchern aus der Textilfirma Grauer
17 - Hofmann, Richard: Stilisierte Pflanzenformen in industrieller Verwendung, Plauen 1892, mit Einführungstext
18 - Fiedler-Bender, Gisela: Otto Eckmann, ein Hauptmeister des Jugendstils, Ausstellung im Kaiser Wilhelm Museum, Krefeld 1976; und: Otto Eckmann, Vorlagen für ornamentale Malerei, Berlin, 1897. In der Einleitung heißt es: Diese Entwürfe sind weder von alten Meistern entlehnt noch von Mitlebenden gestohlen, sondern aus der umgebenden Natur entstanden.



 

Richard Hofmann (1852-1903), Leiter der 1875 eröffneten „Königlichen Kunstschule
für Textilindustrie" in Plauen

Gabriel Prévot (1876-1927),
geb. in Saint-Quentin, Direktor "de
L'enseignement de l'Art Décoratif à Tours"

Ludwig Otto Werder (1865-1902)
Lehrer für Musterkomponieren für Maschinenstickerei in St.Gallen
 
Stil um 1900 in Europa - die Anfänge von L.O. Werder
Auch für Henri van de Velde (1863-1957) besaß die Linie eine besondere Kraft. In seinen Entwürfen wurde sie aus sich heraus zum dekorativen Ornament, Träger eines emotionalen Ausdrucks. (19) Er beschäftigte sich eine lange Zeit mit den Gesetzmäßigkeiten ihrer Bewegung. Von der einfachen Linie gelangte er zu komplexen Flächenmustern und schenkte der Ausgewogenheit zwischen positiv- schwarzen und negativ-weißen Flächenpartien größte Aufmerksamkeit.
Strengere, abstraktere, auch kleinteiligere Muster wurden in der Folge vor allem durch den Einfluß der Wiener Werkstätte beliebt. Hier ist der von Geradlinigkeit geprägte Stil Joseph Hoffmanns (1870-1956) hervorzuheben. (20) Die St. Galler Vorlagenblätter der Jahrhundertwende zeigen den Übergang vom Naturalismus zum floralen Jugendstil sehr deutlich:
Richard Hofmann (1852-1903), Leiter der 1875 eröffneten „Königlichen Kunstschule für Textilindustrie" in Plauen (21), gab in den 1890er Jahren naturalistische und wenig stilisierte Blumenmuster als Vorlagen heraus. Seine späteren Beispiele weisen Einflüsse japanischer Kunst und des floralen Jugendstils auf.
In den Vorlagen von H. Frilling, Berlin, lassen sich ostasiatische Formen wiederfinden, und in den Arbeiten von Gabriel Prevot kann man dieselbe Entwicklung vom Naturalismus zum floralen Jugendstil verfolgen. Die Vorlagenblätter waren in erster Linie Inspiration für Stoff-Dekor maschineller wie handgefertigter Arten. Anregungen gaben in St. Gallen auch die Abbildungen handgearbeiteter Spitzen des Wiener „k. k. Central-Spitzen-curses" (22), besonders schöne Beispiele des floralen Jugendstils. Diese Spitzen gehen auf den Entwerfer J.Hrdlicka (1857-1907) zurück, der in Wien seit 1879 arbeitete, seit 1891 als Hilfslehrer, seit 1898 als Professor bezeichnet wird. Seine Reise im Jahre 1898 an verwandte Institute, auch nach St. Gallen, (23) ist belegt.
In St. Gallen nahm der Dessinateur Ludwig Otto Werder (1865-1902) in der Auseinandersetzung um den neuen Stil eine wichtige Stellung ein. 1883 erhielt er seine Grundlagen als Stickereientwerfer in der Zeichnungsschule, konnte sich aber mit Direktor Fischbach nicht recht anfreunden (24). Seine Ausbildung setzte er 1885 in einem St. Galler Stickereibetrieb fort; an-
schließend erweiterte er seine Kenntnisse von Anfang 1888 bis Herbst 1889 in einem Entwerferatelier in Paris. Von der Pariser Weltausstellung 1889 war er besonders beeindruckt. Neben Samuel Bings Zeitschrift „Le Japon Artistique" lernte er sicherlich auch dessen Geschäft mit ostasiatischer Kunst und japanischen Holzschnitten kennen, denn derartige Einflüsse finden sich in seinen Entwurfszeichnungen. Zurückgekehrt in seine Vaterstadt, arbeitete Werder zunächst für verschiedene Stickereifirmen. 1890 trat er dem seit 1882 bestehenden Entwerfer-Verein St. Gallen bei, (25) wo man ihn bald mit speziellen Aufgaben betraute: 1891 amtete er als Aktuar, von 1896 bis 1897 als Vereinspräsident. Hier fühlte er sich nicht am richtigen Platz, stellte er doch in seinem Jahresbericht abschließend fest: „... ich bin zum Entschlüsse gekommen, daß ich für einen Präsidenten nicht geschaffen bin und bitte Sie: lassen Sie mich wieder unter das Volk!" (26) Am l. November 1896 begann Werder an der Zeichnungsschule als Lehrer für Musterkomponieren für Maschinenstickerei. Im Jahresbericht heißt es: „Herr Werder wurde mit der Aufgabe betraut, im Musterzeichnen für Maschinenstickerei und verwandte Gebiete zu unterrichten," und weiter: „Die Abteilung wird nach dem Plane geführt, daß im engeren Anschluß an das vorausgegangene Fach des Naturzeichnens einfache, in großem Rapport gehaltene Flächenmuster entworfen werden; allmählich wird die Aufgabe bestimmter und enger gefaßt und schließlich eine spezielle Technik zu Grunde gelegt, für welche die Zeichnung zu berechnen ist". (27)

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19 - Sembach, Klaus-Jürgen und Schulte, Birgit Hg.: Henri van de Velde, ein europäischer Künstler seiner Zeit, Ausstellungskatalog, Köln 1992, S. 118
20 - Schweiger, W J.: Wiener Werkstätte. Kunst und Handwerk 1903-1932, Wien, 1982, S. 220
21 - Hofmann, Richard: Concurrenzarbeiten für die Spitzen- und Stickerei Industrie, Plauen um 1900; sowie derselbe als Herausgeber in: Muster für Textilindustrie, Serie 5
22 - Einführungstext zu Österreichische Spitzen von Dr. Fritz Minkus, Wien und Leipzig, o. J; sowie J. Hrdlicka, Entwürfe für Moderne Spitzen
23 - Gisela Framke, Dortmund, machte freundlicherweise auf entsprechende Eintragungen in den Personalakten im Wiener Institut -
L. 0. Werders Ein- und Austritt in die Zeichnungsschule ist festgehalten im l.-3. Bericht der Zeichnungsschule von 1884-1886, vgl. Anhang: Schülerlisten. In Privatbesitz ist L. 0. Werders Tagebuch erhalten, das er vom 27. August 1885 bis zum 10. Januar 1893 führte.
25 - Hochuli, Urs: Der Entwerfer-Verein St. Gallen, 1882-1982. Die Geschichte eines Berufsverbandes, aufgezeichnet anläßlich des l00jährigen Jubiläums, St. Gallen 1982
26 - Jahresbericht vom Zeichner-Verein für das Jahr 1896, Januar 1897, aufbewahrt bei den chronologisch geordneten Dokumenten des Zeichnervereins, Textilmuseum St. Gallen
27 - Verwaltungsbericht KD 1895/1896, St. Gallen 1897, S. 18; Bericht IGM l. Mai 1896 -30. April 1897. St. Gallen 1897, S. 12, 15.


 

Detail mit Iris von Richard Hofmann, Plauen

aus: Vorlagemappe von Richard Hofmann








Stickereivorlage von Richard Hofmann

aus Vorlagemappe von Gabriel Prévot,
1. Serie, hgg. in Nottingham (Howitt)

aus Vorlagemappe von Gabriel Prévot,
2. Serie, hgg. Plauen (Stoll)

aus Vorlagemappe von Gabriel Prévot,
2. Serie, hgg. Plauen (Stoll)
 
Vorlagewerk Werder - Emil Hansen (Nolde) in St. Gallen
Im Sommer 1897 unternahm er im Auftrage des Museums eine Reise nach Leipzig und Brüssel.(28) Die Ausstellung desselben Jahres in Dresden, die Henri van de Velde in Deutschland bekannt machte, wird ihm nicht entgangen sein. Diese und weitere auf der Reise empfangene Eindrücke und Studien bildeten wichtige Anregungen zu seinem ersten Vorlagewerk, herausgekommen im Januar 1898. In der Einleitung dazu steht, er wolle darstellen, wie die heutige Geschmacksrichtung sich in Spitzentechnik ausdrücken lasse, und einen Beweis erbringen für die Existenzberechtigung der jetzt sich bahnbrechenden Dekorationsweise. (29) 1901 erschien ein weiterer Band mit Mustervorlagen (30) und Otto Alder, sein Vorgesetzter, lobte vor allem die Ausführung der Zeichnungen, die sorgfältig und wohlstudiert seien, im Gegensatz zu manchen ausländischen Publikationen. (31)
Die Muster lassen sich in vier Gruppen einteilen, in größere Formate für Vorhänge, in „bandes" oder in Besatzstreifen für Kleider, in ganz schmale und einfache Streifen, und schließlich in eine Gruppe mit kleinrapportigen Stoffmusterungen, den sogenannten „allovers". Vor allem diese letztere Gruppe, mit einer Ausgewogenheit zwischen positiven und negativen Formen, ist bei Werder bereits 1898 mehrfach vertreten. Im ersten Mappenwerk haben die Vorlagen oftmals breite, starke Linienführungen, die an japanische Holzschnitte erinnern. Die zweite Vorlagensammlung zeigt auf derselben Seite große und kleine Muster vereint. Hier finden sich feine, zarte Blütenkompositionen, floraler Jugendstil in seiner anmutigsten Ausprägung.

In St. Gallen bedeuten die Maschinenstickerei und Stickereispitze eine völlig neue Technologie, die nicht direkt aus einem Handwerk hervorging. Diese Industrie war in erster Linie mit der Mode verbunden, während in Deutschland größeres Gewicht auf Heimtextilien gelegt wurde. Wie in ganz Europa fanden auch in St. Gallen intensive Diskussionen über den neuen Stil statt.
Seit Januar 1892 unterrichtete Emil Hansen (Nolde) (1867-1956) aus Norddeutschland in St. Gallen Flachornament-Zeichnen. (32) In der Beschreibung dieses Faches heißt es (33): „Nach sauberer Konturzeichnung wird das Kolorieren eingeübt; die Auswahl des Stoffes erfolgt in dem Sinne, daß den Schülern die bemerkenswertesten Stilarten zur Anschauung und Übung gelangen". Hansen hatte im Kunstgewerbemuseum Berlin die Stellenausschreibung gesehen. Auf Grund seiner Skizzenbücher mit historischen Ornamenten wurde er unter 34 Bewerbern ausgewählt. Bis 1895 konzentrierte er sich voll auf diese Lehraufgabe, dann lernte er in München Georg Hirth kennen, den Herausgeber der 1896 gegründeten Zeitung „Die Jugend" (34), und zeichnete für ihn Ornamente und Vignetten. In St. Gallen waren die Vorgesetzten wenig begeistert von seinem Stilwechsel, und es dauerte nicht lange bis das Anstellungsverhältnis ein Ende fand.(35) 1897 ließ Hansen Postkarten mit Bergansichten in einer Auflage von 100000 drucken und verkaufte diese innerhalb von 10 Tagen. Nun konnte er sich ohne finanzielle Sorgen seiner weiteren Ausbildung widmen und dem Direktor in St. Gallen mitteilen, er werde zum 1.1.1898 nicht mehr an die Schule zurückkehren.
Es gibt keine Belege, ob Hansen und Werder in St. Gallen über den neuen Stil diskutierten und wieweit Werder dadurch Münchener Einflüsse aufnahm. Die Möglichkeit besteht. Sie waren gleichaltrig und unterrichteten ein Jahr lang, von Herbst 1896 bis Herbst 1897, in demselben Hause.

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28 - Bericht IGM l. Mai 1897-30. April 1898,St. Gallen 1898, S. 5 heißt es: ...„Die Reise gab Anlaß zu mehreren Ankäufen und zum Studium der Spuren,welche die sogenannte „moderne" Richtung des Geschmackes in kunstgewerblichen Schöpfungen aufweist. Ausgiebiger konnte letzteres geschehen auf einer Reise, welche Herr Werder im Auftrage des Museums unternahm und die ihn ebenfalls nach Leipzig, dann aber nach Brüssel führte, wo, unter dem Einfluße des nahen Paris, der Strom der neuen Ideen schon stärker und ursprünglicher fließt und verdaulichere Früchte gezeitigt hat "...
Auf Seite 12 desselben Berichtes: ...
„Herr Werder hat gegen Ende des Jahres als Frucht der auf seiner Reise empfangenen Eindrücke und seiner Studien in moderner Richtung die erste Abteilung eines Werkes 'Dentelles Nouvelles' herausgegeben..."
29 - Werder, L. 0.: Neue Spitzen, Entwürfe für Spitzen, Stickereien, Gardinen in moderner Auffassung, Zürich 1898
30 - Werder, L. 0.: Dentelles Nouvelles, types modernes pour dentelles broderies, rideaux, 2me serie, Plauen 1901, l. und 2. Auflage
31 - Otto Alder, Der neue Stil in der Stickereiindustrie, in: Tagblatt der Stadt St. Gallen vom 22. 11. 1901
32 - Verwaltungsbericht KD 1890/1891, St. Gallen 1892, S. 17; 9. Bericht Zeichnungsschule 1891/1892, St. Gallen 1893, S. 3, sowie 15. Bericht IGM 1992, St. Gallen 1993, S. 2: ...„Herr Hansen hat sich als Zeichner für das Museum aufs Beste eingeführt, er hat schon eine Reihe geschmackvoller Entwürfe für das Kunstgewerbe geliefert."
33 - Bericht IGM l. Mai 1896-30. April 1897, St. Gallen 1897, S. 14
34 - vgl. Manfred Reuther: Das Frühwerk Emil Noldes, Köln 1985,S. 147 ff
35 - Verwaltungsbericht KD 1896/1897, St. Gallen 1898, S. 22, 23: ...„Hrn. E. Hansen ist auf Ende des Schuljahres gekündet worden, weil es Hrn. Hansen nicht gelungen ist, die gewerbliche Seite seiner Aufgabe, auf die von Anfang an das Schwergewicht gelegt wurde, in einer Weise auszubilden, wie man es erwartet hatte und verlangen mußte, um das von Hrn. Hansen bezogene Honorar zu rechtfertigen. Das figürliche Zeichnen allein kann und darf an unserer Schule keine volle Stelle beanspruchen, so lange nicht neue Gebiete in den Kreis ihrer Tätigkeit gezogen werden."
Bericht IGM l. Mai 1897 - 30. April 1898, St. Gallen 1898, S. 3. ... „eine weitere Änderung trat ein, indem das Anstellungs-
verhältnis des Herrn Hansen auf Mai 1898 gelöst und dann auf seinen speciellen Wunsch der Rücktritt schon auf Ende Dezember 1897 bewilligt wurde.
Emil Nolde: Mein Leben, Berlin 1931, S. 156: „...schließlich eines Tages erbat ich mir einen Extraurlaub, und bald danach erfolgte die Quittierung meiner fesselnden Pflichten, denen ich schon längst entwachsen war."
Nolde an seinen Freund Hans Fehr, l. Nov. 1897: „... als Neuigkeit kann ich Dir mitteilen, daß schon zu Neujahr ich die Gallusstadt verlasse ... Viele schöne Tage waren es und jetzt zähle ich die Stunden bis fröhlich ich davonfliege, nach Isarstadt..." Hans Fehr in einem Artikel zu Noldes 50. Geburtstag, St. Galler Tagblatt vom 8. 8. 1917: „...man war erstaunt, als Nolde sich 'mit einem jähen Ruck' von der St. Galler Schule losriß... . Man war verblüfft, weil man Nolde als ruhiges Temperament, als beliebten und geachteten Lehrer schätzte, der, im Kreise einer kleinen Freundesschar, in St. Gallen ein behagliches und geordnetes Dasein führte."




Vorlagenmappe 2. Serie, hgg. in Plauen
(Stoll) 1898, von Ludwig Otto Werder

Entwurfszeichnung auf Papier
von Ludwig Otto Werder


Entwurfszeichnung auf Papier
von Ludwig Otto Werder


Vorlagenmappe 2. Serie, hgg. in Plauen
(Stoll) 1898, von Ludwig Otto Werder

Vorlagenmappe 2. Serie, hgg. in Plauen
(Stoll) 1898, von Ludwig Otto Werder

Vorlagenmappe 2. Serie, hgg. in Plauen
(Stoll) 1898, von Ludwig Otto Werder
 
Otto Alder über die neue Stilrichtung - Ansichten von Ludwig Otto Werder
1896 zeigten Ostschweizer Stickereifirmen auf der Schweizer Landesausstellung in Genf Stickarbeiten mit überlieferten Mustern. Die „Münchner Neuesten Nachrichten" kritisierten diese Produktionen. Das bewog einen ungenannten St. Galler Autor am 18.12.1896 zu einigen Bemerkungen im Tagblatt seiner Stadt: die produzierenden Kräfte wären gut beraten, wenn sie den Gang der Dinge etwas verfolgten und nicht gedankenlos im Althergebrachten weitermachen würden. Es wäre nötig, durch eine neue Auffassung im Ornament eine Neubelebung der Stickereiindustrie herbeizuführen, denn nur eine Industrie, die ihrer Zeit zu folgen vermöge, könne auf die Dauer lebensfähig sein. Vor allem diese letzte Bemerkung ließ die Ostschweizer Unternehmer nicht gleichgültig, und das Kaufmännische Directorium erteilte dem angesehenen Industriellen und jahrelangen Mitglied der Museumskommission Otto Alder (1848-1933) den Auftrag, ein vertrauliches Gutachten über diese Frage anzu-
fertigen.(36) In diesem Gutachten und in zwei Zeitungsartikeln zu Ludwig Otto Werders Vorlagenwerken setzt sich Otto Alder mit dem Jugendstil und seiner Brauchbarkeit für die Maschinenstickerei auseinander und kommt zu dem Schluß, der moderne Stil habe nun seine Rüpeljahre hinter sich. Für die Stickerei sei er allerdings noch immer wenig brauchbar, denn die mechanische Stickerei müsse in erster Linie die weibliche Toilette verzieren. Diese verlange Grazie, und Grazie könne man bisher wenig finden.
Doch lobt er die sorgfältige und wohlstudierte Entwurfszeichnung und hält ihre Anwendung in der Stickerei für denkbar. Werder war es also gelungen, die Bedeutung des modernen Stils für die Maschinenstickerei aufzuzeigen. Johannes Stauffacher allerdings ließ sich nicht vom Jugendstil überzeugen. Die Spannungen zwischen ihm und Werder nahmen zu. Stauffacher gründete in St. Gallen seine eigene Schule, und in später veröffentlichten Jahres- und Schülerberichten (37) rechtfertigte er seine Methoden.
In der Ostschweiz spielte der Kaufmann seit dem Mittelalter eine bedeutsame Rolle. Um die Jahrhundertwende sahen weite Kreise immer deutlicher, daß die Industrien ihre Wege durch den Kaufmann und nicht durch den Künstler zugewiesen erhielten. Andererseits bedeutete die Mitarbeit des Künstlers sehr viel, denn jener sollte Anregungen geben, neue Formen zu finden.
Wie in anderen Zentren, so reifte auch in St. Gallen die Einsicht, daß Kunst und Industrie miteinander und nicht gegeneinander arbeiten sollten. Während für Stauffacher also das Künstlertum höchstes Ziel bedeutete, strebte L.O. Werder bereits Jahre vor der Gründung des Werkbundes nach Kunst in der Industrie. Diese Ansicht hatte er durch Auseinandersetzungen mit Theorien seiner Zeit erworben. Wahrscheinlich kannte er eine Schrift von Walter Crane, dem Begründer der „Arts and Crafts Exhibition Society", denn dieses 1896 herausgegebene Buch (38) befindet sich noch heute in der St. Galler Textilbibliothek.
In der Einleitung zu Werders erster Vorlagenmappe steht: „Wenn aber diese Compositionen Fachleute dazu anregen sollten, sie in ihrem Werdeprozeß zu studieren, zu begreifen und den Schlüssel zum Ausgangspunkt selbständigen Denkens und Schaffens zu sehen, so ist der Zweck meiner Arbeit erreicht; dann hoffe ich, ein Weniges beigesteuert zu haben zur hohen Sache des Fortschritts, zum Drang nach Selbständigkeit der Kunst unserer Zeit auch auf diesem Gebiete."
Werder betonte, daß man bei der Herstellung eines Entwurfes nichts dem Zufall überlassen dürfe. Auf der Grundlage von Naturstudien und künstlerischem Fühlen sollten technische Ausführbarkeit wie Erfordernisse des Marktes berücksichtigt werden. In diesem „bewußten Componieren" sah er den eigentlichen Zweck des Schulbetriebes. Mit der Bedeutung, die Werder den technischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten zumaß, ging er über die Ziele der Arts and Crafts-Bewegung hinaus, und nahm Ideen des Werkbundes voraus.
Für die Zukunft hatte Werder im Sinn, die Textilsammlung des kunstverständigen Industriellen Leopold Ikle zu bearbeiten und in seine Lehre miteinzubeziehen. Ikle hatte diese Sammlung um 1900 dem damaligen Industrie- und Gewerbemuseum geschenkt, und sie wurde eine der wichtigen Grundlagen für dieses Institut.
Leider konnte Werder jedoch den Erfolg seines Unterrichts und seiner Bemühungen und Ideen nicht mehr erleben. Er starb am 27. November 1902. (39)

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36 - Dieser Bericht, gedruckt im Juli 1897, war zunächst vertraulich und mit der Bemerkung „convidentiell" versehen. Im Jahre 1903 erschien er als Beilage zum Bericht IGM l. Mai 1902 -30. April 1903. Sowie: Otto Alder, Der neue Stil in der Stickereiindustrie, in: Tagblatt der Stadt Gallen vom 15. 4. 1898 und Otto Alder, Der neue Stil in der Stickereiindustrie, in: Tagblatt der Stadt Gallen vom 22. 11. 1901
37 - Bericht IGM . I.Mai 1902 - 30. April 1903, St. Gallen 1903, S. 14 - 17; sowie: Verwaltungsbericht KD 1902/1903, St. Gallen 1904, S.17:„...Ende Juni ist es zu einer Kündigung der Lehrstelle des Herrn J. Stauffacher auf 30. Juni 1904 gekommen, weil Herr Stauffacher sich immer nicht dazu verstehen konnte, den Lehrplan der Schule auch für ihn maßgebend anzuerkennen und sich loyal an denselben zu halten; vielmehr bei jeder Gelegenheit in Buch-, Broschüren- und Briefform jedem, der es hören wollte, verkündete, daß der Studiengang, wie er aus den Beratungen der Museumscommission und des Directoriums hervorging, gründlich verkehrt sei und durch einen von ihm selbst aufgestellten 'richtigen Unterrichtsgang' ersetzt werden sollte...";
sowie: Bericht IGM, l. Mai 1903 - 30. April 1904, St. Gallen 1904, S. 12. Sowie: Stauffacher-Schule St. Gallen nach 5 Jahren, St. Gallen 1909
38 - Crane, Walter: Forderungen der dekorativen Kunst, Berlin 1896
39 - Verwaltungsbericht KD 1901/1902, St. Gallen 1903, S. 16; Bericht IGM, 1. Mai 1901-30. April 1902, St. Gallen 1902, S. 12, 15, und Bericht IGM, 1.. Mai 1902-30. April 1903, St. Gallen 1903, S. 13;
vgl. auch Nachrufe in Tageszeitungen: Ostschweiz Nr. 276 vom 29. Nov. 1902; NZZ, 1. Dez. 1902; Tagblatt der Stadt St.Gallen 3.Jan.1903
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Emil Hansen (Nolde) (1867-1956) aus Norddeutschland in St. Gallen,
das er zum 1.1.1998 verliess

Entwurf für Möbel in historisierendem Stil
aus der ersten Zeit als Lehrer in St.Gallen

neue Linienführung am Jahrhundertende
 

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