Annatextiles, spitzen_inhaltANNE WANNER'S Textiles in History   /  spitzen_2018-01

 
- "Das Alte auf eine neue Weise tun - das ist Inovation": Anne Wanner-JeanRichard
Anne Wanner-JeanRichard, Dr.phil., curator of Textilmuseum St. Gallen, Switzerland from July 1978 to March 2000:
Folgender Text ist die 1. Textversion mit Abbildungen von der Autorin aufgenommen und bisher nicht publiziert.

(die umgearbeitete Version mit Photos von Michael Rast wurde gedruckt in dem Buch:
Historische Spitzen - die Leopold Iklé Sammlung im Textilmuseum St.Gallen, Arnoldsche Art Publisher, Stuttgart, 2018
288 S., 24,5 x 30 cm, 220 Farbabb. Hardcover. Deutsch. ISBN: 978-3-89790-533-7
Diese Publikation ist im Buchhandel und im Textilmuseum St.Gallen erhältlich)
 

"Das Alte auf eine neue Weise tun - das ist Inovation" (1):

Leopold Iklé war sich als Fabrikant von Textilien sehr bewusst über den Wert von alten Handstickereien, sein Interesse an alten Techniken bildete vermutlich den Anstoss und Anfang seiner Sammlertätigkeit. Dies kommt zum Ausdruck in seinem Tafelwerk über die Spitze. Im 1. Teil dieses Bandes (2) führt er die Entstehung der genähten Spitze auf die Leinenstickerei, und hier vor allem auf die verschiedensten Zier- und Schlingstiche zurück, die  „..... zuweilen schwebend auf der Leinwand“ gearbeitet seien. Diese schwebenden Zierstiche finden sich bereits auf norddeutschen Altar- und Fastentüchern, z.B. bei den Weissstickereien, die in niedersächsischen Klöstern wie Lüne oder Ebstorf zu Ende des 13. und am Anfang des 14. Jhs entstanden.
In einem weiteren Abschnitt des Tafelwerkes (S. 1,2), vermutet Iklé, dass vielleicht sogar die dalmatinische Küste als Wiege der Spitze betrachten werden könnte, da man hier die Technik des Doppeldurchbruchs schon sehr früh zur Verzierung von Kleidern verwendete. Die Venetianer hätten nach der Eroberung dieses Gebietes um 1400, die einheimischen Zierarten aufgenommen und weiterentwickelt.

Leopold Iklé schenkte dem damaligen Industrie und Gewerbemuseum St. Gallen, dem heutigen Textilmuseum, im Jahre 1904 einen ersten Teil seiner Sammlung (3). Diese grosszügige Geste beruhte unter anderem auf Iklés Ueberzeugung, dass Textilien früherer Zeiten Grundlage für neues Gestalten bildeten. So sollten denn seine mit viel Liebe zusammengetragenen Kostbarkeiten auch für die Zukunft zur Anregung und Inspriation für Schulen, Studierende und Interessierte dienen. Iklé formulierte dies folgendermassen: „Bei der Vielseitigkeit der Industrie und dem Wechsel der Mode sind aber alle guten Vorbilder früher oder später von Nutzen.“ (2). Zu den 1467 Textilien der erwähnten Sammlung erstellte er selber einen zugehörigen Katalog, der am 21. Juli 1908 erschien.

Die hier vorliegende Studie möchte Iklés Sammlung zunächst mit Handspitzen vergleichen und später die Bedeutung alter Textilarbeiten für die neue Technologie der Maschinenstickerei hervorheben. Die Bedeutung historischer Textilien als Fundus zur Ispiration zu  neuem Gestalten, gerade auch bei wechselnden Technologien, soll damit anhand von Beispielen gezeigt werden.


a) Gewebegrund und Handstickerei
Iklés sammelte Leinenstickereien aus einem Zeitraum vom 15. bis 17. Jahrhundert. Gemäss erhaltener Familienwappen lassen sich diese Arbeiten vor allem in die deutsche Schweiz lokalisieren. Neben dem naiv lebendigen Erzählen gehört das Beleben des Leinengrundes durch verschiedene Stickstiche zum Merkmal der Gruppe. Besonderes interessierten Iklé die schwebenden Stiche, er glaubte bei den auf dem Gewebe liegenden und mit diesem nur am Rande verbundenen Schling- und Flechtstichen (Abb. 1), die Anfänge von Nadelspitzen gefunden zu haben.

Ebenfalls zu den frühesten Spitzenarbeiten zählen die in der Technik des Doppeldurchbruches gemusterten Leinenarbeiten. In der Sammlung Iklé sind Altartücher, Kelchtücher, Decken, Bett- und Tischwäsche vom 15. – 17. Jh. aus Italien, Deutschland in diese Weise verziert (Abb. 2). Frühe Spuren dieser Art finden sich auf mehreren Mustertüchern, die sich in Schweizer Museen erhalten haben. Im Textilmuseum St.Gallen sind entsprechende Beispiele in die Jahre 1635, 1652 (Abb. 3) und 1659 datiert, allerdings stammen sie nicht aus der Sammlung Iklé, sondern aus einem früheren Museumsbestand. Anna Rapp (4) meint, es könne sich dabei um Schularbeiten handeln, die unter Leitung derselben Lehrerin, wohl in der Schweiz, entstanden. Leopold Iklé hatte eine ganze Reihe datierter und signierter Spitzen-Mustertücher des 17. Jhs aus England in seine Sammlung einbezogen. Sie zeigen die Beliebtheit der Spitzentechnik auch in jenem Lande. Zur Verzierung von Tüchern und Decken wurden die Fäden manchmal nur in einer Richtung aus dem Gewebe gezogen und später mit verschiedene Stick- und Hohlsaumstiche (Zughöhlarbeiten) ergänzt.

Bei anderen Beispielen ist eine fortschreitende Auflösung des leinenen Gewebegrundes erkennbar (Abb. 5), das Ausziehen von Fäden in waagrechter und senkrechter Richtung, wie auch das Wegschneiden kleiner Teilstücke, verleihen dem Gewebegrund vermehrte Transparenz. Spezielle, weitmaschige Gewebearten oder auch Gerüste von schmalen Litzen und Schnüren, ersparten bald das mühsame Herauslösen und Entfernen der Gewebefäden. Das Gitter tritt in der Folge kaum mehr in Erscheinung, denn die durch das Ausziehen entstandenen Oeffnungen oder weggeschnittenen Partien werden später mit Schling- oder Webstichen wieder gefüllt. Das Gitter dient lediglich als Stütze für die Spitzenstiche.
Ein lichtes, luftiges Gebilde, hat nun das Gewebe verändert, eine Netzspitze oder Reticella mit geometrischen Formen, mit Quadraten, Sternen ist entstanden (Abb. 6). Bald entwickelten sich freiere Formen, die elegante Venezianer Spitze zeigt Blätterranken, Blumen und bisweilen Figuren.

  Anmerkungen:
1) Zitat von Joseph Alois Schumpeter, geboren am 8. Februar 1883 in Triesch, Mähren, österreichische Reichshälfte von Österreich-Ungarn; gestorben am 8. Januar 1950 in Taconic, Connecticut, USA. Dieser österreichische Nationalökonom und Politiker, nahm 1925 die deutsche und 1939 die US-Staatsbürgerschaft an.
2) Iklé/Fäh, (1919), S. 1,2, S. 54; sowie Wanner, 2002, S. 7, 16, 32, 46.
3) Wild, 1908, S.5. Datum der Schenkung erwähnt im Katalog der Sammlung von 1908.

4) Rapp, Bern 1976, S. 6.
5) Bräker, Ulrich, 1978; Bodmer, 1960; Wanner, 1986, S. 91 – 108.
6) Bleckwenn, 2000, S. 46.
Publikationen von Leopold Iklé
und über Iklé und die Sammlungen:

- Wanner-JeanRichard, Anne et al., Leopold Iklé – ein leidenschaftlicher Sammler, hrsg. vom Textilmuseum St.Gallen, 2002.
- Wanner-JeanRichard, Anne, Leinenstickereien des 15. – 17. Jahrhunderts aus der ehemaligen Sammlung Leopold Iklé, Ausstellungsheft, hrsg. vom Textilmuseum St.Gallen 1990.
- Auktionskatalog 1989, The Iklé Collection, Christie’s South Kensington, Perth 1989.
- Iklé, Ernest, la broderie mécanique, 1828-1930, Paris 1931.

- Auktionskatalog 1923, Auktionskatalog Sammlung Leopold Iklé St.Gallen, 2 Bände, Zürich 1923.
- Fäh, Adolf, Leopold Iklé, 1828-1922, Gedenkblätter unter Zugrundlegung seiner Memoiren, St.Gallen o.J. (1922).
- Fäh, Adolf, Textile Vorbilder aus der Sammlung Iklé in St.Gallen: Kunststickereien, Zürich, o.J. (1920).
- Iklé, Leopold und Fäh, Adolf, Die Sammlung Iklé: Beiträge zur Entwicklungsgeschichte der Spitze, Text- und Tafelband, hrsg. vom Kaufmännischen Directorium St.Gallen, Zürich o.J (1919).
- Textilsammlung Iklé, Industrie- und Gewerbemuseum St.Gallen, Katalog bearbeitet von Leopold Iklé, Adolf Fäh, Emil Wild, Zürich, 1908.


 
Abb. 1 - Detail einer Leinenstickerei mit Schlingstichen, die auf dem Gewebe liegen, Mitte 16. Jh. , Schweiz, Inv. Nr. TM 20011

Abb. 2 - Detail einer Durchbrucharbeit, Inv.Nr. TM00252
 
Abb. 3 - Detail eines Mustertuches (unbekannter Sammler), dat. 1652, vielleicht Schweiz, Inv. Nr. TM 20035

Abb. 4 - Detail einer Durchbrucharbeit, Italien, 16. Jh., Inv.Nr. TM 00806
 
Abb. 5 - Detail eines Mustertuches, 1. Drittel 17. Jh., Westeuropa, (L.Ikle), Inv. Nr. TM 20138

Abb. 6 - Detail einer Reticella, Italien, 16. Jh., Inv.Nr. TM00156
 
Seit dem 17. und vor allem im 18. Jh. verfeinerte sich der Gewebegrund. Die Ostindischen Handelsgesellschaften vermittelten feinste Baumwollgewebe - indische Musselin - nach Europa. (Abb. 7) Mit veränderten Anbaumethoden des Flachses gelang auch in den Niederlanden die Herstellung feinerer Leinengewebe. Die sog. Leinenbatiste oder Cambric wurden beliebt. Zudem spann und verwebte man vermehrt Baumwolle. Das Material selber fand sich in Europa schon seit längerer Zeit, als Mischgewebe (Barchent) war es in Italien bereits im 14. Jh. bekannt. Handelshäuser, wie z.B. der seit dem 13. Jh. bestehende Fondaco dei Tedeschi in Venedig, kauften rohe Baumwolle aus Mittelmeergebieten. Das Rohmaterial gelangte über die Alpenpässe in verschiedene Länder, in denen man es verarbeitete.

Im Zürcher Oberland ist das Baumwollspinnen im 17. Jh. durch Armenberichte belegt, und im Kanton Glarus geht die Einführung in die Jahre um 1714 zurück. In der Ostschweiz herrschte die Leinwandindustrie vor, dies änderte sich um 1721 mit der Einwanderung von Peter Bion. Er stammte  aus einer Hugenottenfamilie und führte den Handel mit Baumwollgeweben und ihre Herstellung in die Ostschweiz ein. Im Kanton Appenzell stellten feine Mousselinegewebe eine Besonderheit dar. Wie Ulrich Bräker berichtet, war das Baumwollspinnen auch im st.gallischen Toggenburg seit den 1730er Jahren bekannt. Zu einem ausgedehnten Baumwollgebiet entwickelte sich zudem der bernische Unteraargau. Aus mittleren und gröberen Garnen entstanden unter anderem Druckböden für Indiennes (5).

Eine Gewebeverzierung mittels Stickerei kam nach 1750 in Mode. Damals sollen Mädchen aus Lyon die Technik des Tambourierens in die Stadt St.Gallen gebracht haben. Der feine Baumwollstoff zu einer im Textilmuseum St.Gallen erhaltenen Taufdecke mit Kettenstichverzierung könnte aus Indien stammen, aber vielleicht handelt es sich dabei auch bereits um einheimisches Gewebe (Abb. 9). Als Ziertechnik erscheint die neue Tambouriertechnik nun im Verein mit feinsten Zughöhlarbeiten. Bei diesen Verzierungen zog man oft nur das lockere Gewebe in regelmässigen Gruppierungen zusammen, löste also keine Fäden daraus heraus. Diese Technik könnte von Arbeiten aus Sachsen (Deutschland) inspiriert sein. Dort hatte sich um die Mitte des 18. Jh. die „Point de Saxe“-Technik (6) zu hoher Perfektion entwickelt (Abb.10). Aehnliche Musterungen entstanden zu dieser Zeit in anderen Gebieten, z.B. im schottischen Ayr (Abb. 11), im französischen Dinant (Abb. 12), um hier nur einige wenige Beispiele anzuführen.
 
 
Abb. 7 - Detail aus einer Schürze, England, dat. 1711, Inv. Nr. TM 20011

Abb. 8 - Detail aus einer Schürze, England, dat. 1711, Inv. Nr. TM 20011
 
Abb. 9 - Detail aus einer Taufdecke, Ostschweiz, Mitte 19. Jh., Inv. Nr. TM 21260

Abb. 10 - Detail aus einer Decke, Sachsen, Deutschland, 2. Hä. 18. Jh., Inv.Nr. TM 21263

 
Abb. 11 - Detail aus einem Taufkleid, Schottland, Ayr, 2.Hä. 19. Jh., Inv. Nr. TM 20138

Abb. 12 - Detail aus einer Decke, Dinan, Frankreich, Mitte 19.Jh., Inv.Nr. TM 21397
 
Die seit dem 19. bis ins 20. Jh. hinein beliebten Nadelspitzen Füllungen scheinen von französischen Spitzen angeregt. Appenzeller Stickerinnen übernahmen solche Füllungen oder „Jours“, wie sie für Alençon Spitzen typisch sind (Abb. 13,14), und verbanden diese Formen mit einheimischen Vorstellungen (Abb. 15, 16). Einzelne Formen benannten sie nach eigenem Gutdünken als „Rösli, Fineli, Iszäpfli, Bläckler, Bläckli-Chrüzli, Tschäpeli-Rösli“ (7) usw.

Französische Spitzenmotive, wie auch die Musterungen, die im Gebiet von Dresden als point de Saxe in der Zughöhl- und Durchbruchtechnik erscheinen, beeinflussten im späteren 19. und 20. Jh. auch die Textilarbeiten in Osteuropa. Dies zeigen nicht nur Hauben und Schultertücher aus Böhmen (Abb. 18), aus Norwegen (Hedebo) oder Dänemark (Hardanger) (Abb. 19) oder Madeira (Abb. 20). Ja, weisse Decken und Tücher aus Persien, Manila (Abb. 21) und Indien (Abb. 22) (Chikan) verwendeten bisweilen recht ähnliche Zierformen. Bei diesen letztgenannten Beispiele müsste allerdings abgeklärt werden, wie weit man diese speziell für den Export nach Europa fertigte und sie sich deshalb europäischen Kundenwünschen annäherten.
 
 
Abb. 13 - Detail einer Spitze, Frankreich (Argentan oder Alençon), 19. Jh., Inv. Nr. TM 3330

Abb. 14 - Detail einer Spitze, Frankreich (Argentan oder Alençon), 19. Jh., Inv. Nr. TM 20351
 
Abb. 15 - Detail aus einem Taschentuch, Schweiz (Appenzell) , um 1850, Inv. Nr. TM 20332

Abb.16 - Detail aus einem Taschentuch, Schweiz (Appenzell), um 1850, Inv.Nr. TM 21264
 
Abb. 17 - Detail aus einem Haubenboden, Frankreich, 19. Jh., Inv. Nr. TM 22066

Abb. 18 - Detail aus einer Damenhaube, Böhmen, 19. Jh., Inv.Nr. TM 23412
 
Abb. 19 - Detail aus einer Schürze, Dänemark (Hardanger), 19. Jh., Inv. Nr. TM 454 (alt)

Abb. 20 - Detail aus einer Decke, Madeira, 19. /20.Jh., Inv.Nr. TM 23493
 
Abb. 21 - Detail aus einer Decke, Manila, 19. Jh. , Inv. Nr. TM 23493

Abb. 22 - Detail aus einer Decke, Indien (Chikan), 2. Hä. 19. Jh., Inv.Nr. TM 22640
 
 
 
 

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