ANNE WANNER'S Textiles in History   /  spitzen_2018-02

 
- "Das Alte auf eine neue Weise tun - das ist Inovation": Anne Wanner-JeanRichard
Anne Wanner-JeanRichard, Dr.phil., curator of Textilmuseum St. Gallen, Switzerland from July 1978 to March 2000:
Der unten folgende Text ist die 1. Textversion mit Abbildungen von der Autorin aufgenommen und bisher nicht publiziert.

(die umgearbeitete Version mit Photos von Michael Rast wurde gedruckt in dem Buch:
Historische Spitzen - die Leopold Iklé Sammlung im Textilmuseum St.Gallen, Arnoldsche Art Publisher, Stuttgart, 2018
288 S., 24,5 x 30 cm, 220 Farbabb. Hardcover. Deutsch. ISBN: 978-3-89790-533-7
Diese Publikation ist im Buchhandel und im Textilmuseum St.Gallen erhältlich)
 

b) Die Bedeutung von Tüll und die Mechanisierung – die Alençon Spitze
John Heathcoat entwickelte zu Ende des 18. Jahrhunderts eine Maschine, die einen Netzgrund auf mechanische Weise produzierte. 1808 entstand auf dieser Bobinet-Netz Maschine erstmals ungemusterter, einem handgearbeiteten Klöppelnetz ebenbürtiger Tüll. Der neue Netzgrund, liess sich auf verschiedene Weise verzieren, zunächst mit einfacher Handstickerei (Abb. 23, 24).
Am naheliegendsten war es, das Grundnetz mit dem Stickgarn und mit Vorderstich zu durchziehen. Aber auch Kettenstich mittels der 1868 bekannten Kettenstichmaschine (Cornély Maschine) liess sich applizieren. Allerdings verzog sich das Netz beim Besticken häufig, und deshalb kam schon bald eine besondere Ausschneidetechnik auf, bei welcher der Tüll auf Mousselinegewebe aufgelegt und mit diesem gemeinsam bearbeitet wurde. In einem weiteren Arbeitsgang konnten einzelne Teile des Tülls oder der Mousseline weggeschnitten werden, es entstanden die in der Ostschweiz als Ausschneide- oder Spachtelarbeiten (Abb. 25-27) bezeichneten Stickereien. Seit den 1880er Jahren verwendete man diese Technik hier besonders für Vorhänge. Die zeitgenössischen Jahresberichte des Kaufmännischen Directoriums meinen, dass man damit erfolgreich gegen die ausländische Konkurrenz bestehen könne (7). Dies vor allem, als man die Spachtelstickerei noch mit der Aetztechnik (Aetzapplikation) kombinierte (Abb. 28-32).

Was die Motive und die Musterung anbetraf, so inspirierte die Alençon Spitze mit ihrem Netzgrund und den umrandeten Musterkonturen die erwähnten Maschinenarbeiten. Ebenso finden sich „Jours“ mit Füllungen in Spitzenstichen. Bereits in der Appenzeller Handstickerei hatten sich diese Formen grosser Beliebtheit erfreut, nun bekamen sie auf dem maschinell hergestellten Netzgrund neue Bedeutung. Erste Arbeiten sind den französischen Spitzen sehr ähnlich, erst später zeigen sich neue Gestaltungen. Bei den Nachahmungen spielten stilistische Unterschiede der französischen echten Spitzen nur eine kleine Rolle, die neue mechanische Version lehnte sich ebensogut an Spitzen der Zeit von Louis XV, Louis XVI, Empire oder auch an Argentan Spitzen an. In St. Gallen verwendete man den Namen Alençon Stickerei bis weit ins 20. Jh. hinein für die meisten Arten des mechanischen mit Stickerei gemusterten Tülls (8).

  Anmerkungen:
7) Jahresbericht des Kaufmännischen Directoriums 1888, S. 15.
8) Wanner, 1983, S. 19.
9) Eine noch unveröffentlichte Studie vergleicht die in der St.Galler Literatur vorkommenden Daten mit den Geschäftsbüchern der Firma A.Koechlin & Cie, die in den "Archives municipales de Mulhouse, 80 rue du Manège" im elsässischen Mulhouse aufbewahrt werden. Im "Inventaire des Archives de la Société des Constructions Mécaniques (S.A.C.M), CERARE, 1997" befinder sich


unter 18 TT eine Liste "archives d'entreprise DON 1826-1870".
Hier sind die Geschäftsbücher (Livres des factures) der Firma A.Koechlin aufgeführt und unter 2 G 1-5 (1828-1833) können die Originaleinträge der Lieferungen z.B. nach St.Gallen, nachgesehen werden.
10) Ich danke Ursula Karbacher, dass sie mir Ihre Publikationen zum Thema zur Verfügung stellte. Vgl. hier besonders Karbachder 2012a und Karbacher 2007.

 
Abb. 23 - Detail einer einfachen Tüll-Durchzugarbeit von Hand

Abb. 24 - Detail einer Durchzugarbeit, Webstich, Inv.Nr. TM 22940, Handarbeit
 
Abb. 25 - Detail einer Arbeit mit doppeltem Tüll und Kettenstich, Kettenstichmaschine

Abb. 26 - Detail einer Arbeit auf Tüll, mit Mousseline, Kettenstich und Langstich, Kettenstichmaschine
 
Abb. 27 - Detail eines Musters aus Tüll, mit Mousseline, Kettenstich, Spachtelarbeit, Kettenstichmaschine

Abb. 28 - Detail eines Stickereimusters mit Aetzapplikation auf Tüll, Inv.Nr. Iklé Frères RE 5.28, 2702, Handstickmaschine
 
Abb. 29 - Stickereimuster, Aetzapplikation auf Tüll, Maschinenarbeit

Abb. 30 - Detail des Stickereimusters mit Aetzapplikation auf Tüll, Maschinenarbeit
 
Abb. 31 - Stickereimuster mit Aetz-Applikation auf Tüll, Maschinenstickerei

Abb. 32 - Detail des Stickereimusters mit Aetz-Applikation auf Tüll, Maschinenarbeit
 
Abb. 31 - Stickereimuster mit Point de Gaze, Applikation auf Seidengaze, Maschinenstickerei

Abb. 32 - Detail des Stickereimuster auf Seidengaze, Maschinenarbeit
 
c) Auflösung des Gewebegrundes nach dem Besticken
Wichtige Neuerungen in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts betrafen die Erfindung der Stickmaschine und die Einführung der Aetztechnik.
Eine erste Stickmaschine entwickelte Josua Heilmann (1796-1848) in Mülhausen bereits im Jahr 1828 (patentiert 1829). Der St.Galler Franz Mange (1776-1846) erwarb im Herbst 1829 mehrere dieser sog. Handstickmaschinen in zwei Lieferungen von der Maschinenfabrik André Köchlin & Cie in Mülhausen (9). Zunächst konnten diese aber nicht erfolgreich eingesetzt werden. Erste Verbesserungen der 1840er und 1850er Jahre durch Jacob Bartholome Rittmeyer (1786-1848) zusammen mit seinem Sohn Franz Elisäus Rittmeyer (1819-1892) und seinem Mechaniker Anton Vogler ermöglichten eine grössere Produktion.
Die ersten Erzeugnisse der Stickmaschine in der Schweiz bestanden in bestickten Bändern und Entre-Deux (vgl. Abb. 41 Teil 3) für Wäschestücke. Rapportware oder die sogenannten Längenen hatten in den 1840/50er Jahren schon als Handstickerei einen grossen Exportanteil ausgemacht. Die frühen mechanischen Produkte nahmen sich nun die einfachen Handarbeiten zum Vorbild und ahmten sie immer perfekter nach, bis sie jene vollständig verdrängten.
Isaak Gröbli (1822-1917) erfand im Jahre 1863 die Schifflistickmaschine. Das mühsame Einfädeln von Sticknadeln erübrigte sich nun, denn mit einem 2-Fadensystem liessen sich Spulen mit grösserem Garnvorrat einsetzen. Aehnlich wie bei der Nähmaschine verband sich ein Vorderfaden durch Verschlingen mit dem Faden auf der Geweberückseite. Dies erlaubte schnelleres Arbeiten und damit eine umfangreichere und billigere Produktion. Nachdem Isaak Gröblis Sohn Arnold (1850-1939) in Jahre 1898 den Stickautomaten entwickelt hatte, ergab sich eine weitere Steigerung in der Produktivität.. Mit einer Lochkartensteuerung lief die Maschine automatisch, ohne den am Panthographen sitzenden Arbeiter.

Die den Stickgrund betreffende Neuerung war von entscheidender Bedeutung. In den frühen 1880er Jahren erfand Charles Wetter–Rüsch (1857-1921) und seine Mitarbeiter, eine Methode, den Stickgrund mit chemischen Mitteln nach dem Besticken zu entfernen. Damit sich aber die übrig gebliebenen Stickstiche nach dieser Bearbeitung gegenseitig hielten, war ein enges Ineinanderarbeiten dieser Stiche grundlegend wichtig. In ostschweizerschen Betrieben bezeichnete man eine auf diese Weise entstandene, imitierte venezianische Spitze als „Guipure“. Dieser Ausdruck stammt vom französischen „guiper“, was mit Seide überspinnen bedeutet. Die auf der Handstickmaschine gearbeiteten Aetzspitzen glichen mit ihren eng aneinanderliegenden Stickstiche solchen umwickelten Gimpen und die aus der Posamenterie stammende Bezeichnung Guipure galt, vor allem in der Ostschweiz, bald für Aetzspitzen im Allgemeinen.

Die Aetztechnik ermöglichte ein Nachahmen sozusagen aller bekannter Spitzenarten (Abb. 33-40). Von den 1880er Jahren bis gegen 1930 eroberten mit Maschine hergestellte Point de Venise, Duchesse Spitzen, Filetarbeiten, irische Häkelarbeiten, usw. den Markt (10).

 
Abb. 33 - Stickereimuster mit Imitation von Point de Venise, Maschinenstickerei, Inv.Nr. TM Musterbücher Iklé Frères

Abb. 34 - Stickereimuster mit Imitation einer Rosalinenspitze, Maschinenstickerei, Inv.Nr. TM Musterbücher Iklé Frères
 
Abb. 35 - Stickereimuster mit Imitation einer Borte mit Pflanzenmotiv, Maschinenstickerei, Inv.Nr. TM Musterbücher Iklé Frères

Abb. 36 - Stickereimuster mit Imitation einer Borte mit Pflanzenmotiv, Maschinenstickerei, Inv.Nr. TM Musterbücher Iklé Frères
 
Abb. 37 - Stickereimuster mit Imitation einer Solspitze (Nanduti), Aetzstickerei, um 1900, Schifflistickmaschine, Inv.Nr. TM Musterbücher Iklé Frères

Abb. 38 - Stickereimuster mit Imitation einer geknüpfter Filetspitze, Schifflistickmaschine, Inv.Nr. TM Musterbücher Iklé Frères
 
Abb. 39 - Kleideinsatz, Imitation einer Irische Häkelspitze in Aetzstickerei, um 1900, Schifflistickmaschine, Inv.Nr. TM Musterbücher Iklé Frères RE 5.29, 8140

Abb. 40 - Stickereimuster, mit Imitation von Irischen Häkelspitzen in Aetzstickerei, um 1900, Schifflistickmaschine, Inv.Nr. Iklé Frères RE 5.33, 8100
 
 
 

home  
content
Last revised November 2018 For further information contact Anne Wanner anne.wanner(at)gmx.ch