ANNE WANNER'S Textiles in History   /  spitzen_2018-04

 
- "Das Alte auf eine neue Weise tun - das ist Inovation": Anne Wanner-JeanRichard
Anne Wanner-JeanRichard, Dr.phil., curator of Textilmuseum St. Gallen, Switzerland from July 1978 to March 2000:
Der unten folgende Text ist die 1. Textversion mit Abbildungen von der Autorin aufgenommen und bisher nicht publiziert.
(die umgearbeitete Version mit Photos von Michael Rast wurde gedruckt in dem Buch:
Historische Spitzen - die Leopold Iklé Sammlung im Textilmuseum St.Gallen, Arnoldsche Art Publisher, Stuttgart, 2018
288 S., 24,5 x 30 cm, 220 Farbabb. Hardcover. Deutsch. ISBN: 978-3-89790-533-7
Diese Publikation ist im Buchhandel und im Textilmuseum St.Gallen erhältlich)

f) Der Musterentwurf

Die typischen Motive der heimischen Spitzenstickereien übermittelten die handarbeitenden Frauen jahrzehntelang von einer Stickerin zur anderen. Als Vorlagen für Figuren und szenische Darstellungen mochten manchmal Illustrationen aus Büchern dienen. Doch in der Ostschweizer Handstickerei fanden auch Entwerfer Beschäftigung und Auskommen. Ihre Namen blieben nur vereinzelt erhalten, und auch der Ort ihrer Ausbildung ist selten bekannt. Zum Beispiel hatte sich der Zürcher Kunstmaler Hans Christian Ulrich (1880-1950) im appenzellischen Weissbad niedergelassen, er beschäftigte seit 1915 Stickerinnen in seinem Atelier und beeinflusste dadurch die Handstickerei.
Bei den handgearbeiteten Stickereien oder Spitzen handelte es sich in jedem Falle um Originale, deren Herstellung sehr viel Zeit in Anspruch nahm. Aber auch Handarbeiten wiesen unterschiedliche Qualitäten auf, zwischen einfachen Einsätzen für Wäschstücke, die in Heimarbeit in der Ostschweiz und auch im Schwabenland entstanden, und den reichverzierten Taschentüchern oder Spitzenschleiern für adelige Damen bestand eine grosse Spannweite. Dies verhielt sich bei Maschinenstickereien nicht anders. Doch wegen ihrer massenhaften Produktion waren sie preisgünstiger, fanden grössere Verbreitung und damit auch einen grossen Bekanntheitsgrad.

Ein Vorteil der Stickmaschine ist ihre Möglichkeit einzelne Motive (18) zu sticken. Diese wurden in vielen Fällen nach dem Stickvorgang ausgeschnitten und später mit der Nähmaschine zu neuen Gebilden zusammengesetzt. Um das Produkt fertigzustellen sind nach dem Besticken eine ganze Reihe von weiteren Tätigkeiten erforderlich, wie Ausschneiden, Zusammensetzen und anderes mehr. Dies besorgten Mitarbeiterinnen der Firmen weitgehend in Heimarbeit.

Seit der Mitte des 19.Jhs fanden Weltausstellungen statt, hier wurden die Produkte von Ausstellern und Ausstellungsbesuchern verschiedener Nationen verglichen. Es gab Jurierungen, Preise konnten gewonnen werden. So war es gerade die aufkommende Massenproduktion und die Maschinenstickerei, die den Wunsch nach aesthetisch befriedigenden Erzeugnissen weckte.

Maschinenarbeiten hatten ihre eigenen Gegebenheiten, es liess sich nicht jeder Wunsch realisieren. Zwar ist die Idee, die Inspiration für ein Muster wichtig, doch ebenso wichtig ist die Frage, wozu die Stickerei dienen sollte, ob Tisch-, Bett- oder Leibwäsche, ob Taschentuch, Bluse oder Abendkleid mit Stickerei verschönert würden. Unerlässlich ist die Auseinandersetzung mit dem zu verwendenden Material, Kundenwünsche sind zu berücksichtigen, auch Modetrends spielen eine Rolle. Nicht zuletzt muss der Dessinateur seine künstlerischen Vorstellungen der Maschine anpassen. Hier gilt es, Rapport und Abstand der Nadeln zu beachten und aus Preisgründen die Anzahl der Stickstiche auf die unbedingt nötige Menge zu beschränken, bezahlte doch der Auftraggeber die Sticker an den Maschinen nach der Anzahl getätigter Stickstiche. Es bestand ein Zusammenhang zwischen den Stichzahlen und der Qualität einer Stickerei. Qualitätvolle Maschinenarbeiten, Luxusartikel, zeichnen sich aus durch sehr dicht bestickte Flächen, was sich für Aetzarbeiten als besonders ausschlaggebend erwies. Sobald man versuchte, weniger Stiche einzusetzen, bestand hier die Gefahr, dass diese nicht genügend miteinander verbunden waren und dass sich damit die Qualität verringerte. Dies konnte zu Stickereien führen, wie man sie überall auch auf Wochenmärkten antraf (19).

Ein technischer Stickereizeichner, der sog. Vergrösserer, zeichnete den originalen Entwurf für die Stickmaschine um. Bei der technischen Zeichnung handelt es sich um eine 6-fache Vergrösserung mit Einzeichnung aller technischer Angaben und den zu stickenden Stichen. Letztere wurden von Hand gezählt und in Spiegelschrift notiert, denn anschliessend übertrug man das seitenverkehrte Original mit einer Kopierwalze auf den Stickkarton. Der Karton diente dem Sticker an der Handstickmaschine und auch an der Schifflistickmaschine als Arbeitsvorlage.

  Anmerkungen:
18
) Hochuli, 1994, S. 52. In der Ostschweizer Maschinenstickerei kennt man besondere Bezeichnungen für verschiedene Techniken (Aetztechnik, Spachteltechnik, Schnürlistickerei usw.), zudem gibt es die sog. „Artikel“, z.B. „Motive“, andere Artikel heissen „Entre-Deux, Band, Galon, Allover“.
19) Iklé, Ernest, 1931, S. 132.
20) Hochuli / Wanner, 1994, S. 15; Framke, 1995, S. 77; sowie: 6. Bericht Zeichnungsschule 1888/1889, S.7.
21) Zitate aus: Verwaltungsberichte des Kaufmännischen Directoriums an die kaufmännische Korporation in St.Gallen, 1897, S.18; Bericht über das Industrie-und Gewerbemuseum St.Gallen und über die Zeichnungsschule für Industrie und Gewerbe 01.05.1896-30.04.1897, S. 12,15.

Zu Werder und St.Gallen um 1900:
http://www.annatextiles.ch/publications/spitzen/spitze_um_1900/spitz_1900.htm
Werder 1898 und Werder 1901: Wanner 1999, S. 75.
22) Werder, 1898, Vorwort; Wanner, 1999, S. 75-78.
23) Otto Alders Kritik in: Tagblatt der Stadt St.Gallen, 15.4.1898 und 22.11.1901. Zudem ist diese Frage behandelt in: Hochuli, 1989, S. 60 ff.
24) Patentzitat: Charles F. Iklé: US design patent 69085 vom 22. Dezember 1925 "Design for Lace"
https://en.wikipedia.org/wiki/Design_patenthttps://
patents.google.com/patent/USD69085S/en
Ich danke Herrn Heino Strobel für den Hinweis auf Abbildung und Zitat.
25) Nachforschungen im Stadtarchiv St.Gallen ergaben nur die Bestätigung persönlicher Daten des Stickereientwerfers. Wanner, 1999, S.31 und 33.
26) Wochenzeitung: Migros Magazin 3, Menschen, 15. Jan. 2018, S. 33.
 
g) Ausbildung in St.Gallen
In St.Gallen war man sich der Notwendigkeit, gute Zeichner auszubilden, sehr bewusst. Eine erste Zeichnungsschule für Musterzeichner bestand seit 1867, sie wurde in das 1886 neu erbaute Institut in St.Gallen integriert, welches auch die Textilsammlung und die Bibliothek beherbergte. An der Schule übernahm Johannes Stauffacher (1850-1916) den Unterricht im „Stilisieren und Componieren unter besonderer Berücksichtigung der Bedürfnisse unserer Industrie“ (20).

Unter den Lehrern besass L.O. Werder (1868-1902) eine besondere Stellung. Dies zeigt sich in seiner Auseinandersetzung um den neuen Stil, den floralen Jugendstil. Nach einer Ausbildung als Stickereizeichner in St. Galler Stickereibetrieben und einem Aufenthalt in Paris, berief man ihn am 1. November 1896 als Lehrer für Musterkomponieren für Maschinenstickerei. Im Jahresbericht der Zeichnungsschule heisst es: „Herr Werder wurde mit der Aufgabe betraut, im Musterzeichnen für Maschinenstickerei und verwandte Gebiete zu unterrichten," und weiter: „Die Abteilung wird nach dem Plane geführt, dass im engeren Anschluß an das vorausgegangene Fach des Naturzeichnens einfache, in grossem Rapport gehaltene Flächenmuster entworfen werden; allmählich wird die Aufgabe bestimmter und enger gefasst und schliesslich eine spezielle Technik zu Grunde gelegt, für welche die Zeichnung zu berechnen ist". L.Otto Werder veröffentlichte zwei Vorlagewerke zu Stickereimustern. Im Vorwort des 1. Bandes von 1998 heisst es, Werder „mache es sich zur Pflicht, nicht nur Historisch-Konventionelles zu bewundern, sondern auch für weitergehende Bestrebungen Herz und Auge offen zu halten“ (21). Und weiter unten, er wolle nicht „Veranlassung zum Kopieren und Pausen geben“, sondern vielmehr „Fachleuten den Schlüssel zum Ausgangspunkt selbständigen Denkens und Schaffens in die Hand geben“ (22).

Zu Beginn von Werders Lehrtätigkeit an der Zeichnungsschule in St.Gallen, war auch Emil Hansen, der später als Nolde berühmt gewordene Kunstmaler, an dem Institut als Lehrer angestellt. Hansen beschäftigte sich damals mit dem aufkommenden Jugendstil. Die beiden kannten einander, es ist nicht ausgeschlossen dass Hansen mit L.O.Werder über seine neuen Ideen diskutierte.
Die Muster im ersten Band des Mappenwerkes von 1898 zeigen denn auch den neuen, vom Historismus abweichenden Stil (Abb. 47). Doch damit erntete Werder wenig Lorbeeren. Im Gegenteil, der bekannte Stickereifabrikant Otto Alder kritisierte dieses Werk und schrieb am 15. April 1898  im St.Galler Tagblatt unter anderem: „einflechten möchten wir noch die Warnung für Herrn Werder als Lehrer, sich ja nicht zu sehr von diesen Bestrebungen gefangen nehmen zu lassen und an der Schule selbst sie nur äusserst sparsam anzuwenden“. Nach der Veröffentlichung von Werders zweitem Vorlagewerk reagierte Alder versöhnlicher und liess sich von Werders Mustern überzeugen (23).

Die Firma Iklé Frères scheint an dem neuen floralen Jugendstil Gefallen gefunden zu haben, denn in den Musterbüchern finden sich in diesem Sinne gestaltete Muster, sie sind dort als Nouveautés bezeichnet (Abb. 48).
Im Allgemeinen war die Haltung der Stickereiindustrie St.Gallens dem Jugendstil und Art Nouveau gegenüber eher ablehnend, denn diese modernen Spitzen fanden keinen guten Absatz. Man griff lieber auf Bewährtes, nämlich auf die Formenwelt des Barock und Rokoko zurück. Wichtiges Inspirations- und Vorlagematerial fand man in den Sammlungen von St.Galler Stickereifabrikanten, wie z.B. in derjenigen von Leopold Iklé. In diesem Sinne ist zu verstehen, dass Charles Iklé (1879-1963), Neffe von Leopold und Leiter der New Yorker Niederlassung, 1925 den Entwurf zu einer Guipure patentieren liess (24) (Abb.49). Und dieser Entwurf zeigt im Jahre 1925 nochmals den im 19. Jahrhundert so beliebten historischen Stil.

 
Abb. 47- Vorlage aus Otto Werder, Dentelles Nouvelles, 1898,
Blatt 1, Textilbibliothek St.Gallen


Abb. 48 - Stickmuster, mit Ausschneidetechnik (Spachtelarbeit),
Anfang 20. Jh., Handstickmaschine, Inv.Nr. Iklé Frères RE 5.27, 8194

 
Abb. 49 - Patentschrift
mit Design von Charles Iklé, 1925

 
 
Abb. 50 -
Detail einer Irischen Häkelspitze, Sammlung Leopold Iklé, Inv. Nr. TM 1591, Handarbeit


Abb. 51 - Detail einer Irischen Häkelspitze, Sammlung Leopold Iklé, Inv. Nr. TM 1711, Handarbeit

 


Abb. 52 - Stickmuster und Detail, Aetzstickerei, um 1900, Schifflistickmaschine, Inv. Nr. Iklé Frères RE 5.29, 8137



Abb. 53 - Stickmuster und Detail, Aetzstickerei, um 1900, Handstickmaschine, Inv.Nr. Iklé Frères RE 5.27, 8218
 
Die an der Schule in St.Gallen ausgebildeten Dessinateure fanden Beschäftigung in Stickereibetrieben oder sie machten sich als Stickereientwerfer selbständig. Nicht auszuschliessen ist, dass sie auch für die weiterhin im Kanton Appenzell bestehende Handstickerei Entwürfe fertigten. Jedoch sind Namen von Entwerfern auch in der Maschinenstickerei nur in seltenen Fällen überliefert. Als Schüler der Zeichnungsschule erscheinen viele von ihnen aufgeführt in den dortigen Schülerlisten, und signierte Schülerzeichnungen werden in den Sammlungen der Textilbibliothek aufbewahrt. Ueber ihre späteren Aktivitäten sind nur zufällige Ereignisse bekannt geblieben.
So veröffentlichte zum Beispiel Walter Siegfried (1858-1947) seine Lebenserinnerungen. Die Firma Rittmeyer hatte den in Paris ausgebildeten Stickereientwerfer in ihr Unternehmen nach Bruggen geholt. In seinem Buch beschreibt er unter anderem die Arbeitsvorgänge in der Stickereifabrik. Auch Erwin Bernets (1836-1910) Name blieb bekannt, denn mit seinem Interesse für die irischen Spitzen (Abb. 50-53) erlangte er einige Beachtung. In Irland selber erstellte er nach originalen Spitzen Vorlagen für mit Maschine zu arbeitende irische Spitzen her (25).

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Sammler Leopold Iklé mit seiner sorgfältig für Museum und Schule zusammengetragenen Sammlung Einfluss auf die Massenproduktion von Stickereien in seiner Zeit ausübte. Die Sammlerstücke bezeugen auch eine Wiederkehr von lange Zeiten hindurch in Handarbeit geübter Formen, nun unter neuen Vorausssetzungen. Die Massenproduktion als solche hat mit den einzelnen Motiven wenig zu tun, ermöglicht doch die Maschine nur das gleichzeitige Herstellen einer grossen Anzahl von Formen und Motiven. So ist es nicht die Handarbeit oder die Maschinenarbeit, die eine hohe Qualität im Endergebnis sichert. Vielmehr werden technische Gegebenheiten vereint mit einem gestalterischen, schöpferischen Geist einem solchen Anspruch näher kommen.

Martin Leuthold, Creative Direktor in der Firma Jakob Schläpfer, St.Gallen und heute wohl bekanntester Textildesigner der Ostschweiz formulierte die Problematik in einem neueren Zitat (26) wie folgt: .......“und schliesslich liefern Weltarchive und Sammlungen in Museen Inspriation. ....... Etwas ganz Neues zu schaffen, ist eigentlich gar nicht mehr möglich. Alles ist lediglich eine Neuinterpretation des Bestehenden......“
 

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Last revised November 2018 For further information contact Anne Wanner anne.wanner(at)gmx.ch